2 - Keine Liebe

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Verträumt starrte ich das Einmachglas in meinen Händen an, beobachtete die Organismen, die sich darin langsam in ihrem eigenen Takt hin und her wiegten. Ich züchtete sie in den Gläsern, um aus ihren Ablagerungen Medikamente herzustellen.

Doch obwohl ich meinen Protokollblock neben mir auf dem Tisch liegen hatte und den Stift zwischen den Fingern drehte, waren meine Gedanken ganz woanders.

Sie waren bei diesem Gesicht. Bei dem Mann, dessen Gesicht ich über Stunden hinweg fasziniert betrachtet hatte. Jede Vertiefung, die Wimpern, die Wangenknochen, das starke Kinn, die Ansätze des Halses, an dem sich die Sehnen unter der makellosen Haut spannten. Es fiel mir einfach schwer zu glauben, dass so ein Gesicht existieren konnte.

Der Ausschnitt des Fensters hatte mir den Rest seiner Gestalt nicht offenbart, egal, aus welchem Winkel ich in die Kapsel geblickt hatte.

Doch es war sowieso nicht wichtig. Sagte ich mir zumindest.

Das Beste für mich wäre, einfach zu vergessen, was ich gesehen hatte, die Konservendosen zu holen und dann nie wieder dorthin zurückzukehren.

Es hatte ohnehin keinen Sinn. Die Kryokapseln waren alt und nicht mit einer eigenen Weckfunktion ausgestattet. Allerdings hatte ich in meiner kleinen Krankenstation auch keine Hitzedruckkammer, um den Mann unbeschadet zurück unter die Lebenden zu holen.

Und dann waren da noch so viele andere gewesen. Mit geschlossenen Augen hatte ich fast zwei Dutzend Seelen gezählt, die zum Teil im hinteren Teil des Raumes verschüttet gewesen waren. Dreiundzwanzig Menschen, die man eingefroren hatte und im Lagerraum eines Gefängnisses aufbewahrte.

Aber zu welchem Zweck?

Wieso musste man jemanden einfrieren, wenn er sowieso auf einen Gefängnisplaneten gebracht wurde? Wie eine Art doppeltes Gefängnis.

Vielleicht waren sie gefährlicher als die restlichen Gefangenen, sodass man sie lieber stillgelegt hatte, um kein Risiko einzugehen.

Wäre es dann aber nicht einfacher gewesen, sie zu töten? Wozu der ganze Aufwand?

Doch umso öfter ich mir das Gesicht des Mannes in Erinnerung rief, desto weniger gefährlich wirkte er auf mich.

Er war so schön gewesen, und die Männer, die ich kannte, waren grausam. Ich konnte mir keinen Menschen vorstellen, der noch schlimmer sein sollte als diese.

»Wo hast du dich rumgetrieben, lil'Pid?«, sprach mich jemand an, dass mir vor Schreck das Einmachglas aus der Hand fiel.

Pidja war der Name meine Mutter gewesen und mich nannte man schon damals kleine Pidja.

Das war mir eigentlich ganz recht. Solange sie mich für ein kleines Kind hielten, hatte ich weniger Ärger. Ich musste mich eher fürchten, wenn mich jemand mit meinem richtigen Namen ansprach.

Eine große, schuppige Hand fing das Glas noch im Fall auf und stellte es lässig auf den Tisch neben mir.

Es war Cobal, der mich mit seinen gelben Echsenaugen eingehend musterte. Ich versuchte, ihm nicht ins Gesicht zu sehen. Wenn es sich vermeiden ließ, dann wollte ich nicht, dass er mir ansah, dass sich etwas verändert hatte.

»Ich bin rumspaziert«, behauptete ich leise und schob das Glas zurück zwischen die anderen ins Regal.

Es war das einzige Möbelstück in diesem Raum, das Krung komplett verschont hatte: Der Arzneimittelschrank. Das restliche Zimmer war vollständig verwüstet. Die Liegen waren umgerissen, Lampen waren zertrümmert, von meinen Arbeitstischen war der eine zerbeult und der andere in der Mitte durchgebrochen. Chirurgisches Besteck lag auf dem Boden verteilt herum. Die Kiste mit dem Verbandszeug war beim Aufprall gegen die Wand aufgesprungen und weiße Stoffstreifen waren in alle Richtungen davongerollt.

KHAOS -touching soul [Leseprobe]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt