Wie jedes Mal

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Tief atmete sie ein, sog den so dringend benötigten Sauerstoff aus der Luft in sich auf. Für einen Moment, der zu ihrem Bedauern nicht von langer Dauer war, fühlte sie sich ruhiger. Von Zuversicht erfüllt. Sie hatte das Gefühl, dass sie es schaffen würde. Dass sie keine Angst haben musste vor dem, was passieren würde, denn es lief seit Jahren immer nach dem selben Muster ab. Sie musste sich keine Sorgen machen. Sie tat es sich doch selbst jedes Mal aufs Neue an. Da konnte es doch nicht so schlimm sein, redete sie sich ein. Doch dann war die Zeit des Atemzuges vorbei und die Realität holte sie ein. Wie jedes Mal.

Das Konzentrieren auf eine kontrollierte Atmung war der letzte Strohhalm gewesen, an den sie sich noch hätte klammern können. Doch jetzt, wo sie ihre Atmung halbwegs unter Kontrolle hatte, wurde ihr klar, dass sie keinen weiteren Vorwand hatte, um weiterhin zu warten.

Ängstlich legte sie ihren Kopf in den Nacken, als wäre dort oben etwas, dass ihr helfen würde. Doch neben dem nach dem Gewitter weitestgehend wolkenlosen, ja fast schon freundlich wirkenden Himmel erblickte sie nur die Lärche, die sich hoch in den Äther erhob und zu dem Ort gehörten, nach welchem sie sich in letzter Zeit so sehr gesehnt hatte und den sie doch so sehr fürchtete, da er sie mit der Wahrheit konfrontierte. Einer Wahrheit, der sie nicht gerne in die eiskalten Augen sah. Denn sie war verbunden mit einem tief sitzenden Schmerz, den sie in ihrem Inneren verankert hatte, damit er nicht wieder ausbrach und Besitz von ihr ergriff so, wie er es doch jedes Mal tat.

Noch genau erinnerte sie sich an das Gefühl, als sich der Schmerz das letzte Mal in den Vordergrund gedrängt hatte. Es war, als wäre sie über eine mühsam errichtete Absperrung achtlos und ohne sich über Konsequenzen im Klaren zu sein gestiegen und in ein dunkles Loch gefallen, das die Absperrung doch so hartnäckig und im Endeffekt komplett sinnlos zu verhindern versucht hatte. Ein Loch, dass nicht einmal einen Boden zu haben schien, und dem man nur zu entkommen vermochte, wenn man Erbarmen mit der Absperrung hatte und einen Gedanken daran verschwendete diese, wenn auch nur aus Mitleid oder Anteilnahme an ihrem durch das Überschreiten herbeigeführte Scheitern, wieder zu errichten. Nur dann bestand die Chance, dass der gar von Licht unberührte Hohlraum zwischen der kompletten Verzweiflung und der langsam wachsenden Zuversicht sie widerwillig ausspuckte. Erst dann, als sie jenem entflohen war, wagte sie sich wieder in den Alltag. Dieser Zustand der scheinbaren emotionalen Stabilität hielt sich im vergangenen Jahr immer nur kurzweilig.

Doch heute, das schwor sie sich hoch und heilig, würde sie nicht ihren inneren Dämon zum Opfer fallen. Sie würde sie bekämpfen, auch, wenn es hieß, dass dabei Blut vergossen werden würde. Blut, das die Außenwelt als farblose, leicht salzige Flüssigkeit wahrnahm und meist mit geheucheltem Mitleid und gestellten Aufmunterungen zu stillen versuchte. Blut der Dämonen, das die anderen Tränen nannten. Sollten sie doch bluten. Ihr war es recht, denn eins war klar. Sie würde den heutigen Kampf für sich entscheiden - auch, wenn sie deutliche Kampfspuren in Form von geschwollen Augen oder verstopfter Nase davontragen würde, dachte sie in einem Anflug von plötzlich in ihr aufkeimenden Entschlossenheit, den sie sich selbst nicht so ganz erklären konnte. Doch diese Entschlossenheit war, auch wenn sie noch so klein war, ihr Motor, der sie antrieb, sie anspornte einen Schritt vor den anderen zu setzen.

Als sie sich dem eisernen Portal näherte, hinterließen ihre schwarzen Stiefel deutlich erkennbare, tiefe Abdrücke im vom Regen noch feuchten Boden und sie hatte das absurde Gefühl, dass die Erde unter ihren Füßen sie versuchte aufzusaugen und so am Weitergehen zu hindern. Langsamer als gedacht kam sie am alten Tor an, hatte den Boden fürs Erste erfolgreich bezwungen.

Sie strich andächtig über die schon erkennbar vom Rost befallenen Metallstäbe. Seufzend wanderte ihr Blick zu den bemoosten Steinsockeln, auf denen jeweils eine weiße, marmorne Engelsstatue thronte. Bei diesem Anblick wurde ihr wieder einmal schmerzlich bewusst, an welchem Ort sie sich gerade befand. Ein Ort, an dem sich all die Menschen befanden, die von Engeln in den Himmel emporgehoben wurden und nun dort, an einem wahrscheinlich für sie besseren Platz, verweilten, da die Welt, die sie kannten, keinen mehr für sie frei hielt. Es war wie eine andere Welt. Eine Welt der Erinnerungen. Erinnerungen an geliebte Menschen, vergangene Tage, verdrängten Schmerz. Etwas ganz besonderes.

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