Nachts

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Sobald sie den Lichtschalter ausgeschaltet hatte sprintete sie zu ihrem Bett und kroch so schnell, wie möglich unter die Decke.
Vorsichtig schob sie die Decke ein wenig hoch, so das ihr Kopf wieder frei war und schaute sich panisch um.
Erleichtert atmete sie aus. Nirgends waren Monster oder Gespenster zu sehen.
Sie kuschelte sich noch einmal richtig in ihre warme Decke und schloss die Augen. Sie war perfekt in der Zeit. So würde sie morgen relativ ausgeschlafen in die Schule gehen können.

Es war als würde ein Blitz sie durchzucken. Ein gleißend helles Licht erschien vor ihrem inneren Auge.
Sie wollte die Augen öffnen, schreien, aufschrecken, aufwachen.
Sie wollte weg von dort.
Doch wie jede Nacht konnte sie nicht fliehen.
So wurde der Tod immer beschrieben..
Würde sie jetzt endlich sterben?

All die Momente ihres Lebens wurden vor ihrem inneren Auge abgespielt.
War es so, wenn man starb?
Sah man dann nochmal all die traurigen, schlechten Momente vor seinen Augen?
Eigentlich, so sagten immer alle, sieht man das ganze Leben an sich vorbeiziehen und nicht nur die schlechtesten Momente des Lebens.

Wie gerne würde sie schreien, irgendeinen Ton von sich geben.
Doch es war, als wäre ihr Mund zugeklebt.
Sie bekam nichts über die Lippen.

Sie sah, wie ihr erster Freund sie verließ.
Sie sah, wie ihr Vater sie verließ.
Sie sah, wie ihr Bruder sich von ihr entfernte.
Sie sah, wie sie eine Scherbe in die Hand nahm.
Sie sah, wie sie fast vergewaltigt wurde.
Sie sah, wie ihr Vater ihre Mutter schlug.
Sie sah, wie sie abhängig von Scherben wurde.
Sie sah, wie sie versucht hatte ihre Narben zu verstecken.
Sie sah, wie sie versucht hatte stark zu sein.
Sie sah, wie sie gemobbt wurde.

Doch kein einziges Mal sah sie, wie sie weinte.
Kein einziges Mal sah sie ihre Fassade bröckeln.
Kein einziges Mal sah sie sich ehrlich Lachen.

Das einzige was sie sah, war Schmerz, Verachtung, Schauspiel.
Und jede Nacht, wenn sie an das erinnert wurde, was sie am liebsten aus ihrem Gedächtnis gelöscht hätte kam es wieder hervor.

Es waren keine Monster - die unter dem Bett lebten - und auch keine Gespenster, die die Nacht so schlimm gestalteten.
Es waren die Erinnerungen.

Erinnerungen, die nach Jahre langem Standhalten, die Fassade zum Bröckeln brachten und sie endlich wieder weinen ließen.
Erinnerungen, die sie in den Ruin trieben.
Erinnerungen, die sie in den Wahnsinn trieben.
Erinnerungen, die sie Glas benutzen ließen.
Erinnerungen, denen sie den Rücken zuwendete.
Erinnerungen, die sich immer zu ihr durchkämpften.
Erinnerungen, die Nachts hochkamen und erst verschwanden, wenn sie keinen Schlaf mehr bekam.
Erinnerungen, die ihre Brust zuschnürten.
Erinnerungen, die ihr das Leben nahmen.

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