Part 2

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7 ebenso gut die Kassetten überspielen oder den Stadtplan aufheben können. Aber ich will diese Kassetten nie wieder hören. Hannahs Stimme werde ich sowieso nicht mehr loswerden. Und auch die Häuser, die Straßen und die Highschool werden mich stets an sie erinnern. Ich habe keine Kontrolle mehr darüber. Das Paket ist unterwegs. Ich verlasse das Postamt ohne Quittung. Weit hinter meiner linken Augenbraue pocht mein Kopf immer noch. Wenn ich schlucke, brennt es säuerlich in meiner Kehle, und je näher ich der Schule komme, desto näher bin ich einem Zusammenbruch. Ich will zusammenbrechen. Ich will auf den Bürgersteig sinken und in die Büsche kriechen. Denn unmittelbar hinter den Büschen macht der Fußweg eine Kurve und führt am Parkplatz der Schule entlang. Er durchschneidet eine Rasenfläche und läuft direkt auf das Hauptgebäude zu. Sobald man die Eingangstüren hinter sich gelassen hat, betritt man einen langen Gang, der an zahlreichen Schließfächern und Klassenzimmern vorbeiläuft, bis man schließlich die stets geöffnete Tür erreicht, hinter der die erste Stunde stattfindet. Am Kopf des Zimmers, frontal zu den Schülern, befindet sich das Pult von Mr Porter. Er wird der Letzte sein, der ein Paket ohne Absender erhält. Und in der Mitte des Raumes, in der ersten Reihe links, steht der Stuhl von Hannah Baker. Leer. 7

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9 GESTERN EINE STUNDE NACH SCHULSCHLUSS Ein Paket von der Größe eines Schuhkartons lehnt an der Haustür. Unsere Haustür hat nur einen schmalen Briefschlitz, alles, was größer als ein Stück Seife ist, muss draußen bleiben. Der hastig hingekritzelte Name auf der Verpackung adressiert das Paket an Clay Jensen, also hebe ich es auf und gehe hinein. Ich trage das Paket in die Küche und stelle es auf die Arbeitsplatte. Ich öffne eine Schublade und nehme die Schere heraus. Dann schlitze ich das Paket mit der Schneide rundherum auf und öffne es. In dem Schuhkarton befindet sich ein länglicher Gegenstand, der in Luftpolsterfolie eingewickelt ist. Ich rolle sie auseinander und erblicke sieben Musikkassetten. Jede Kassette ist oben rechts mit einer Nummer beschriftet. Die Farbe sieht aus wie Nagellack. Jede Seite trägt eine eigene Zahl. Die Seiten eins und zwei befinden sich auf der ersten Kassette, drei und vier auf der zweiten und so weiter. Die letzte Kassette ist auf einer Seite mit»13«beschriftet, die andere Seite ist leer. 9

10 Wer kommt nur auf die Idee, mir einen Schuhkarton mit Musikkassetten zu schicken? Wer benutzt heute noch Kassetten? Wo soll ich die überhaupt anhören? In der Garage! Auf der Werkbank steht ein Gettoblaster. Mein Vater hat ihn auf dem Flohmarkt erstanden. Da das Teil schon uralt ist, macht es ihm nichts aus, wenn es mit Sägemehl bedeckt und mit Farbe bekleckst ist. Hauptsache, man kann damit Kassetten hören. Ich ziehe einen Stuhl vor die Werkbank, lasse meinen Rucksack zu Boden fallen und setze mich hin. Ich drücke auf»eject«. Eine Plastiklade schwingt auf und ich lege die erste Kassette ein.


11 KASSETTE 1: SEITE A Hallo zusammen. Hier spricht Hannah Baker. Live und in Stereo. Ich kann es nicht glauben. Keine Wiederkehr. Keine Zugabe. Und diesmal auch absolut keine Forderungen. Nein, ich kann es nicht glauben. Hannah Baker hat sich das Leben genommen. Ich hoffe, ihr seid bereit, denn ich will euch die Geschichte meines Lebens erzählen. Genauer gesagt, warum mein Leben ein Ende fand. Und wenn ihr diese Kassetten hört, dann seid ihr einer der Gründe dafür. Was? Nein! Ich werde nicht verraten, welche Kassette wen von euch ins Spiel bringt. Aber keine Sorge, wer diese hübsche kleine Schachtel bekommen hat, dessen Name wird irgendwann auftauchen versprochen! Tote Mädchen lügen nicht! Ist das etwa ein Abschiedsbrief? 11

12 Ihr lacht ja gar nicht. Sollte ein Scherz sein. Bevor Hannah gestorben ist, hat sie diese Aufnahmen gemacht. Warum? Es gibt nur zwei Regeln und die sind ganz einfach. Regel Num mer eins: Ihr hört zu. Nummer zwei: Ihr schickt die Kassetten weiter. Hoffentlich wird euch beides schwerfallen.»was hörst du da an?mom!«ich fingere aufgeschreckt an den Tasten herum und drücke mehrere gleichzeitig.»mensch, hast du mich erschreckt!«, sage ich.»das ist nichts Besonderes. Nur ein Projekt für die Schule.«Meine Standarderklärung. Wenn ich erst spät nach Hause kommen will Schulprojekt. Wenn ich extra Geld brauche Schulprojekt. Und jetzt die Kassetten eines Mädchens. Eines Mädchens, das vor zwei Wochen eine Handvoll Tabletten geschluckt hat. Schulprojekt.»Darf ich mal hören?«, fragt sie.»das ist nicht von mir«, entgegne ich, während die Spitze meines Schuhs über den Betonboden kratzt.»ich helfe nur einem Freund in Geschichte, ziemlich langweiliges Zeug.Das ist aber nett von dir«, entgegnet sie. Sie beugt sich über meine Schulter, hebt einen schmutzigen Putzlappen eine meiner alten Stoffwindeln hoch und nimmt sich das Maßband, das sich darunter befindet. Dann küsst sie mich auf die Stirn.»Bin schon wieder weg.«ich warte, bis die Tür sich schließt, den Finger bereits auf der Starttaste. Doch meine Hände, meine Arme, mein Hals, 12

13 al les fühlt sich taub an. Ich habe nicht genug Kraft, um die Taste eines Kassettenrekorders herunterzudrücken. Ich nehme die Stoffwindel und lege sie über den Schuhkarton, um ihn nicht ansehen zu müssen. Ich wünschte, ich hätte diese Schachtel und die sieben Kassetten darin nie zu Gesicht bekommen. Das erste Mal auf»play«zu drücken, war einfach gewesen. Ein Kinderspiel. Ich hatte nicht geahnt, was ich hören würde. Doch jetzt ist es eines der beängstigendsten Dinge, die ich je getan habe. Ich drehe die Lautstärke herunter und drücke auf»play«. Nummer eins: Ihr hört zu. Nummer zwei: Ihr schickt die Kassetten weiter. Hoffentlich wird euch beides schwerfal - len. Nachdem ihr alle dreizehn Seiten angehört habt, legt ihr die Kassetten wieder in den Karton und schickt sie an denje - nigen weiter, der eurer kleinen Geschichte folgt. Und du, glückliche Nummer 13, du kannst mit den Bändern zur Hölle fahren. Vielleicht sehen wir uns dort, aber das hängt natürlich von deiner Religion ab. Solltet ihr versucht sein, die Regeln zu brechen, so versichere ich euch, dass es von allen Kassetten Kopien gibt. Und diese Kopien werden in der Öffentlichkeit für ziemlichen Wirbel sorgen, wenn das Paket nicht jeden von euch erreicht. Das war keine spontane Entscheidung. Glaubt nie wieder, ihr könntet euch bei mir sicher sein. Wie kann sie das nur denken? Ihr werdet beobachtet. 13

Tote Mädchen lügen nichtWhere stories live. Discover now