Sie geht zum Flügel, setzt sich und atmet tief durch. Sie schließt die Augen, hebt die Hände zu den Tasten.
Verharrt einen Moment in dieser Position.
Öffnet die Augen und lässt ihre Finger auf die Tasten nieder.
Sie fängt an zu spielen.
Die hellen Töne erfüllen den Raum, fliegen auf die Straße, verzaubern alle Menschen, die diese sanfte Melodie hören.
Menschen auf der Straße bleiben stehen, gehetzte Menschen bleiben
stehen und lauschen dieser wundersamen Melodie.
Kinder bleiben stehen, hören mit einem glücklichen Lächeln im Gesicht zu.
Hunde, die vorher noch laut knurrend nach Katzen geschnappt haben, werden ruhig und bleiben stehen.
Katzen, die vorher noch fauchend vor geifernden Hunden weggerannt sind, setzen sich und horchen auf die Musik.
Sie spielt einfach weiter, kümmert sich nicht um das erstarrte Treiben unten, tief unter ihr auf der Straße.
Sie schließt die Augen. Ihre Hände gleiten wie von selbst über die Tasten.
Sie steht auf einer Lichtung. Auf den Bäumen um Sie herum glitzern tausend Sterne, funkelnd, blitzend, die ganze Lichtung in ein betörendes Licht tauchend.
Sie steht auf der Lichtung, bestaunt das Funkeln der Sterne.
Es ist still.
Nur von fern klingt eine wehmütige Musik.
Sie dreht sich langsam um sich selbst, dann immer schneller, immer schneller.
Sie fliegt.
Auf ihrem Rücken bilden sich Flügel. Strahlend weiße Flügel. In ihnen spiegelt sich das Licht der Sterne, das Sie umgibt.
Sie fliegt höher. Immer höher. Bis Sie einen Stern zum Greifen nahe vor sich sieht.
Sie hebt ihre Hand, greift danach.
Das Klavierspiel bricht ab.
Sie öffnet die Augen. Draußen dämmert es bereits.
Ein einzelner Stern leuchtet hell am Himmel.
So hell, und doch ist er allein.
Sie steht auf, tritt auf den Balkon. Bemerkt die Menschenmenge nicht, die eben noch so verzückt, zufrieden und glücklich gewirkt hatte, sich jetzt aber aufrappelt, um weiter hetzen zu können.
Sie sieht nach dem Stern.
Eine kleine Ewigkeit.
Eine plötzliche Sehnsucht überkommt Sie, Sie will zu diesem einen Stern, der so alleine dort am Himmelszelt thront, der so hell leuchtet und doch alleine ist.
Eine Welle aus Gefühlen, so plötzlich und doch so stark. So sonderbar für sie und doch ganz eindeutig. So seltsam und doch so klar.
Sie lehnt sich über die Brüstung, greift nach dem Stern.
Sie fällt.
Sie fällt nach unten, dorthin, wo die verzauberten Menschen standen,
nach unten, das Gegenteil ihres Ziels.
Doch Sie fällt.
Schließt die Augen, hofft und freut sich darauf, bald bei ihrem Stern zu sein.
Bei dem Stern, der so hell leuchtet und doch alleine ist.
Ein Mädchen schreit auf. Die Menschen haben den Fall bemerkt, schreien, rufen um Hilfe, trotz dem Wissen, dass keiner helfen kann.
Sie fällt.
Ihre Augen bleiben geschlossen.
Sie denkt nicht an das Ende, nicht an die hektisch schreienden Menschen. Sie denkt nur an ihren Stern.
Der Stern, der so hell leuchtet und doch alleine ist.
Kurz vor dem Aufprall, kurz vor dem Ende wachsen ihr Flügel, strahlend weiß.
Das Licht des Sternes - ihres Sterns - spiegelt sich darin.
Sie fällt nicht mehr, Sie fliegt.
Höher, immer höher bis zu ihrem Stern.
Sie streckt ihre Hand aus, zögerlich erst, überlegt, ob es vielleicht doch nur ein Traum ist.
Sie berührt den Stern.
Ein Leuchten. Heller als alles, was ein Mensch je gesehen hat, nicht grell oder blendend, warm, beschützend, friedlich, beruhigend.
Es erfüllt alles. Jedes noch so dunkle Eck in der Stadt, jedes Herz eines noch so bösen Menschen.
Es wird wieder dunkel.
Doch die Herzen der Menschen sind immer noch mit der Wärme, dem Licht und der Freude erfüllt, die das Licht gebracht hat.
Am Himmel leuchten nun zwei Sterne.
So hell und nie wieder allein.