Ein Klirren schallte durch den Raum, Splitter folgten kurz darauf. Sie hingen teils noch im Spiegel, doch lagen einige von ihnen am Boden.
Zwischen ihnen stand sie. Eine kleine Gestalt. Einen Meter und fünfundsechzig Zentimeter groß. Mit vorsichtigen Berührungen strich sie über die Oberfläche, schnitt sich an den scharfen Kanten. Blut lief über das Glas und sammelte sich in den feinen Rillen. Sie erkannte sich wieder. In den Scheiben eines Gegenstandes, welches einst mal ein einziges Konstrukt war.Das Gesicht verzerrt, doch waren einige Details gut zu erkennen. Die blutigen, rissigen Lippen, welche immense Ausbeulungen trugen. Eine feine Hautschicht umhüllte diese Wunden, doch wirkte sie fragil, als würde sie wieder jede Sekunde platzen. Lange Narben zierten die Wangen der Bleichen Gestalt, gefolgt von runden, roten Pickeln. Die Stirn wurde von dem Schulterlangen, welligen Haar in Dunkelblond verdeckt.
Die Augen waren rot, die Augenringe deutlich zu sehen, während Tränenbäche die Vernarbten Wangen herunterflossen.
Ein langer Schrei verließ ihre Kehle, die Stimme von Wut, Trauer und Verzweiflung geprägt.
Nur eine einzige Frage schwirrte in ihrem Kopf.Warum?
Warum wurde sie ausgegrenzt? Warum wurde sie beleidigt?
Warum wurde sie erniedrigt?
Warum wurde sie tyrannisiert?
Warum wurde sie fertig gemacht?
Warum musste sie den einzigen Menschen verlieren, den sie besaß, der nicht bei ihr lebte, aber unentbehrlich war?
Warum wollte sie jemand umbringen? Drei mal sogar?
Warum brachten sie ihre Gefühle so nah an den Rand der Verzweiflung?
Warum konnte sie ihre Paranoia und Panik nicht kontrollieren?Alle diese Fragen, sie schwirrten ihr wie Windböen im Kopf herum, während sie nur im Spiegel blickte und schrie.
Und auf einmal war alles still.
Ihre Gedanken, ihre Gefühle, ihre Stimme. Alles war verschwunden. Nur sie, genau sie! Sie war noch da.
Das verzerrte selbst, welches sich in einem Zerstörten Glasmosaik mit unregelmäßigen Teilen anstarrte und über die Narben strich.
Blut klebte nun an ihren Wangen, doch es gefiel ihr. Es passte zu ihr. Es gehörte zu ihr.
Wer wollte sie denn schon da draußen außer sie selbst?
Außer ihre Eltern, die sie im Arm nahmen und gelegentlich anschrien war niemand da.
Kein anderer, der sie umarmte.
Kein anderer, der es ehrlich meinte.Doch vielleicht war sie doch etwas wert.
Vielleicht existierte eine andere Person da draußen.
Eine, die sie verstand und ernst nahm. Es ehrlich mit ihr meinte und fühlte wie sie.
So sah sie ihrem selbst in die Augen und setzte ein Lächeln auf. Dabei ließ sie sich Zeit. Solange Zeit, bis es natürlich wirkte. Mit einer Mund-Nasen-Maske und Strickjacke war das Bild perfekt.
Eilig zog die sich die Schwarz-Grünen Schuhe an, griff nach ihrer Blauen Schultertasche mit bunten Blütenmuster darauf. Ihren Schlüssel legte sie sich um den Hals.
Hastig lief sie ins Freie und stöpselte sich die Blauen Kopfhörer ins Ohr, welche durch die laute Musik ihre Gedanken verstummen ließen und ihre Gefühle betäubten.Die Splitter in der Wohnung blieben aber zurück.
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In den Splittern
Kurzgeschichten"Ein Splitter ist meist ein Teil eines zerbrochenen Spiegels." Fassaden bröckeln, Gegenstände brechen. Doch was machen Menschen eigentlich? Eine Kurzgeschichte. TW: Blut, Deep Thoughts