Kapitel 1

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Schüchtern und vielleicht auch etwas unnahbar. So wirke ich wohl häufig auf Andere. Zumindest auf Leute, die mich nicht kennen. Zugegeben, manchmal stimmt das sogar. Das Problem: Neue Leute lerne ich so eher nicht kennen. Das war schon immer so. Als Kind hatte ich zum Beispiel kaum Freunde. Die ersten zwei Grundschuljahre wurde ich sogar gemobbt. Wenn man jeden Tag beleidigt wird, stärkt das nicht gerade das Selbstbewusstsein eines jungen Mädchens. Fremden gegenüber bin ich daher anfangs noch immer etwas misstrauisch. Und mit Komplimenten kann ich auch nicht umgehen.

Doch dann gibt es da noch eine andere Seite in mir. Diese Seite wurde durch die Alkoholsucht meiner Mutter ins Leben gerufen, denke ich. Darauf hätten meine Brüder und ich zwar gerne verzichtet, aber für mich hatte es auch etwas Gutes. Plötzlich hatte ich so viel Wut in mir, dass ich mich endlich gegen die Mobber zur Wehr setzte. Und ich weiß, alle raten Kids, die gemobbt werden, immer es zu ignorieren. Aber mir hat es geholfen, mich zur Wehr zu setzen. Gewalt ist eigentlich keine Lösung. In meinem Fall war sie es jedoch.

Lasse ich diesen zweiten Teil von mir die Oberhand, dann bin ich nicht das schüchterne Mädchen, sondern mutig und stark. Auch dann bin ich unter Fremden noch zurückhaltend. Bei Freunden und der Familie jedoch nicht. Dort kann ich mich behaupten.

Diese Seite hört gern Gangsta-Rap, gibt sarkastische Sprüche von sich und interessiert sich für Fußball. Alles Sachen, von denen meine Mitschülerinnen früher behauptet haben, dass Jungs es nicht anziehend finden. In ihren Augen war ich kein richtiges Mädchen. Was auch immer das heißen sollte.

Diese Einstellung war auch der Grund dafür, dass ich mich mit den Jungs aus meiner Klasse deutlich besser verstanden habe. Und auch heute kann ich mit Frauen, die nur an Schminke, Klamotten und so ein Zeug interessiert sind, nicht viel anfangen. Aber hey, jedem das seine.

Zum Glück habe ich mittlerweile einige Freundinnen, die nicht so oberflächlich sind. Ein Großteil meiner Clique besteht aber auch heute noch aus Männern. Einige davon waren auch schon einmal in mich verliebt. Mit zweien war ich sogar schon einmal zusammen. Rückblickend betrachtet definitiv keine kluge Entscheidung. Aber ich war jung, hatte gerade mein Abi in der Tasche und zum ersten Mal echte Freunde. Die Aufmerksamkeit tat mir gut.


Es ist kompliziert ...Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt