Der Anfang - Liam

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Hab etwas Geduld. Sowas hört man oft, nicht wahr? Es lässt sich leicht sagen, doch wenn es darum geht zu warten, liegt es am Willen des Menschen seine Geduld durchzusetzen. Dabei hängt diese Mühe nur an einem einzigen Faden fest, einer Entscheidung: wie wichtig ist dem Menschen dieser Gegenstand oder diese Person? Lohnt es sich zu warten und wie lange ist es die Mühe wert durchgezogen zu werden?

Stell dir mal diese Frage: was würdest du nicht für jemanden, der dir wichtig ist tun? Aber sei ehrlich zu dir selbst. Würdest du, wenn alle Welt sagt, dass es nichts mehr zu retten gibt, noch Hoffnung in dir tragen? Mich hat diese Frage davor nie angesprochen oder auch nur ansatzweise interessiert. Nie, bis zum Moment, als ich sie auf der eigenen Haut gespürt habe.

Ich heiße Liam Parkers und war damals noch ein stinknormaler 16-jähriger, der sich meistens nur um seinen Kram kümmerte. Einer, der nicht viel mit anderen Menschen zutun hatte, ein Einzelgänger. Ich habe in Los Angeles gewohnt, in einer recht großen Wohnung. Meine Eltern, meine zwei jüngeren Brüder, David und Ben, und ich. Nach ihrer Hochzeit, bevor ich geboren wurde, zogen meine Eltern dort hin und sind seitdem nur ein Mal umgezogen, also habe ich die prominente Großstadt bezüglich meinem Heim nie verlassen. Viele sagen, dass sie gerne mal dort hin wollen, doch ich bin bis heute eindeutig andere Meinung. Ich konnte es nach dem Betreten der ständig überfüllten Straßen kaum erwarten nach der Schule die ganzen Menschenmassen zu verlassen und mich in meinem geliebten Zimmer zu verkriechen. Wie gesagt, ich war ein Einzelgänger. Ich hatte nicht viele Freunde, und selbst den paar Menschen, die ich meine Freunde nannte, konnte ich nicht richtig vertrauen. Den meisten Leuten gebe ich schon recht: Es war tatsächlich etwas komisch, dass ich mehr mit Mädchen abhing als mit Jungs. Die einzige Person in die ich vollstes Vertrauen hatte und auf die ich immer bauen konnte war ich selbst.

"Je mehr man sich einem Menschen öffnete, desto verwundbarer machte man sich", so dachte ich damals. Mit meinem Vater redete ich nicht gerne, weil ich immer dabei das Gefühl hatte, er hörte mir nicht zu. Einmal bekam ich sogar eine richtige Bestätigung dafür, ihn mied ich also. Meiner Mutter gegenüber war ich aber sehr offen gewesen, im Vergleich zu anderen Menschen. Sie war damals die einzige, die eine so große Menge an Offenheit von mir bekam. Ihr sagte ich es meistens, wenn mich etwas störte oder wenn ich was brauchte. Bei ihr hatte ich das Gefühl, dass sie lieber sterben würde, als mich zu verraten, egal womit. Später kam jemand weiteres, bei dem ich das auch empfunden hatte.

Meine Geschwister befanden sich die meiste Zeit über in ihren eigenen Welten. Mit ihnen konnte man nicht ernst reden, denn nichts und niemanden nahmen sie ernst. Ehrlich gesagt hatte ich sie so lieber als heute. Heute sind sie langweilige Erwachsene mit Familien, anständigen Jobs und großen Zielen. Es kommt einem so vor, als ob die Kinder, die sie damals waren, nie existiert haben.

Bis ich sechs war verbrachte ich meine Zeit damit, das beste aus meinem Leben zu machen und auf die Meinung anderer eher zu verzichten. Danach verschwand diese Haltung langsam, aber sicher.

Ich traf sie. Ein Mädchen, nur ein paar Wochen jünger als ich. Sie war neu in der Stadt gewesen. Ein schüchternes, stockdünnes Mädchen mit dem Namen Amber Faith Williams. Genannt wurde sie Faith.

"Amber passt nicht so zu mir", sagte sie damals sehr leise. Unsere Eltern kannten sich anscheinen schon länger. Gewusst hatte ich das nicht.

Sie zögerte was das Kennenlernen anging. Oft sind sie und ihr kleiner Bruder bei uns gewesen, während ihre Eltern arbeiten mussten. Dabei redete sie nicht viel. Ihr war klar, dass ich mehr hatte als sie jemals haben könnte, es war ihr klar gewesen, dass wir um einiges reicher waren als sie. Ich weiß nicht was sie sich vorgestellt hatte, wie ich mich benehmen würde, doch ich hatte das Gefühl, dass dieser große Unterschied zwischen uns einen großen Teil ihrer Schüchternheit mir gegenüber ausmachte. Eine kleine Wohnung am Rande der Stadt war ihr Zuhause gewesen. Sie musste oft im Haushalt helfen, denn entweder Geld oder Platz für beispielsweise eine Spülmaschine hatten sie selbst nach Jahren nicht gehabt. Sie konnte aber etwas, was für mich damals fast bedeutungslos war: Zuhören. Zuhören ohne auch nur ein Wort zu sagen, bis die Person, die sprach, fertig war. Keine Kommentare, Scherze oder sonst was. Ihre eigene Meinung behielt sie so gut wie immer für sich und wenn sie in einem unserer Gespräche etwas sagte, dann eigentlich nur über andere Menschen, meistens mich, was mich immer wieder aufs neue schmeichelte. Ich lies sie eine meiner wenigen Freunde werden, aber nur wegen der Tatsache, dass sie meistens über mich redete, falls sie überhaupt was sagte. Sie war die Verkörperung meiner Vorstellung von Freunden: Still, ließ nur mich reden, über mich und mein Leben. Es hatte sich bestimmt wie Folter angefühlt, jemanden über sein Luxusleben sprechen zu hören und zu wissen, dass man nicht ansatzweise auf dem gleichen Stand kommen könnte. Wären Zeitreisen möglich, würde ich mein jüngeres ich dafür ohrfeigen wollen. Irgendwo bin ich aber auch dankbar, dass das liebe Schicksal es geschafft hat, eine Verbindung zwischen mir und Faith zu schaffen, sei es eben durch mein Ego.

Was wenn...?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt