《Let Go 1》

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Verdammte Scheiße ist das kalt. Warum hab ich mir keine wärmere Jacke angezogen? Ach, ich ärgere mich wieder über mich selber. Ich schaue auf meine Digitaluhr. Es ist 20:09. Es ist Herbst, deshalb ist es schon ziemlich dunkel. Jetzt steh ich also hier, auf einer verlassenen Brücke. Normalerweise fahren hier immer viele Autos, aber heute ist nichts los. Unter der Brücke sind Gleise auf denen in regelmäßigem Abstand ein Zug hin und her fährt. Ich weiß nicht wohin die Gleise führen aber das ist mir auch egal. Der Himmel ist heute voller Wolken. Es sieht nicht nach Gewitter aus, trotzdem hab ich mir die Kapuze meiner dünnen Jacke über den Kopf gezogen. Ich will nicht dass man mich erkennt falls hier jemand vorbei kommen sollte. Ich schaue über das Geländer nach unten. Ich weiß nicht wie weit es nach unten geht, aber das dürfte reichen um einem Menschen mehrere Knochen und vielleicht sogar das Genick zu brechen. Ja, ich bin heute hier um zu springen. Zur Zeit geht einfach alles schief. Meine Eltern sind beide Alkoholiker und schlagen mich täglich. Früher hat mein Bruder noch bei uns gewohnt, aber nachdem er mit 17 weggelaufen und mich im Stich gelassen hat hab ich bis auf ein kurzes Telefonat nichts mehr von ihm gehört. Da war ich 12. In der Schule hab ich auch Probleme. Es dauert oft ewig die Blutergüsse, die Prellungen und die Schürfwunden mit Make Up zu überdecken. Ich habe keine Freunde. Ich habe absolut niemanden. Außer mich selbst. Ich war meine einzige Freundin für 5 grauenvolle Jahre. Niemals werde ich meinem Bruder verzeihen dass er mich alleine bei meinen Erzeugern gelassen hat. Niemals.

Eine Windböe weht mir ins Gesicht und trocknet meine Tränen ein wenig. Ja, ich weine. Ich weine, weil ich mir selber Leid tu. Erbärmlich, oder? Ich seh das genauso. Gott, warum ist das nur so kalt, der Wetterbericht hat doch gesagt es soll viel wärmer werden... Ich hab mir die Nacht nicht zufällig ausgesucht sondern alles genau geplant. Ich wollte bei wärmeren Temperaturen springen aber so wie es aussieht hat mich nicht nur mein Bruder und eigentlich jede Person die ich kenne im Stich gelassen sondern auch das Wetter. Ich lache leise auf. War ja klar, nicht mal mein eigener Suizid wird so ablaufen wie ich es geplant hab.

Es ist 20:22. Noch 8 Minuten. Dann fährt der Zug unter der Brücke durch um in den nächsten Bahnhof einzufahren. Dann springe ich. Vor einer Stunde hab ich meinen Abschiedsbrief geschrieben. Ich stehe also schon länger hier. Ob meine Eltern ihn schon gefunden haben? Und selbst wenn, sie würden mich nicht davon abhalten mich selbst umzubringen. Warum auch? Für sie bin ich nur eine Last. Eine weitere Träne rollt mir meine Wange hinunter. Halt, das ist nicht so wie ich es geplant hatte. Ich wollte doch gar nicht weinen. Ich wollte die Aussicht und gleichzeitig die letzten Minuten meines Lebens genießen. Ich wollte keine Emotionen zeigen. Mein ganzes Leben lang hab ich meine Tränen zurück gehalten um stark zu sein. Für mich, für meine Eltern. Also wieso sollte ich dann in den letzten Minuten meines Lebens weinen? Siehst du, dazu ist es jetzt auch schon zu spät.
Aus der Ferne höre ich etwas pfeifen. Der Zug! Er kann nicht mehr weit weg sein! Ein Lächeln schleicht sich auf meine Lippen. Gleich ist es vorbei. Aber ich kann ich noch nicht sehen. Ich starre auf mein Handgelenk. Kein Wunder, ich muss noch drei Minuten warten bis er hier ankommt. Gleich hab ich es geschafft. Mein Leben war nicht sehr erfolgreich. Wenn ich so drüber nachdenke hab ich nie etwas erreicht. Ich war eben schon immer ein Verlierer. Ich höre etwas rattern. Leise, aber trotzdem hörbar.
Noch zwei Minuten.
Noch eine Minute.
Da ist er. Am Ende des Horizonts sehe ich den Zug. Ganz klein ist er. Ich lege meine kalten Hände auf das noch kälteren Geländer und steige vorsichtig auf die andere Seite. Ich blicke noch einmal zum wolkenverhangenen Himmel und eine weitere Träne rollt meine Wangen herab. Der Zug kommt näher und näher. Als er nah genug da ist lasse ich mich fallen. Ich falle ins Nichts und um ehrlich zu sein hab ich mich schon lange nicht mehr so frei gefühlt. Gleich ist es geschafft. Ich genieße den Fall und bereue es nicht einmal annähernd gesprungen zu sein. Nach wenigen Sekunden spüre ich einen grausam schmerzhaften Aufprall. Ich bin hart auf den Gleisen gelandet. Ich lächle. Meine Berechnungen haben gestimmt. Der Zug ist schon viel zu nah an meinem schmerzenden Körper um anhalten zu können. Ob der Lokführer mich bemerkt hat? Ich werde es wohl nie erfahren. Aus meinem Lächeln wird ein trauriges Lächeln.
Wenige Millisekunden später überrollt mich der Zug und ich hab es endlich geschafft:
Ich bin tot.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Jul 19, 2021 ⏰

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