Rendezvous im Mondschein

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„Lass mich endlich in Ruhe, du armselige Version eines Bettvorlegers“, grölte die riesige, von Fell bedeckte Gestalt, als sie einen weiteren Baumstamm ausriss und der rasch davonhuschenden Gestalt nachwarf. „Lass uns doch miteinander reden! Ich würde dich gerne kennenlernen!“, stammelte der stark eingeschüchterte Wolf, namens Gray, als er sich mit eingezogenem Kopf und Schwanz betont unterwürfig und langsam nach hinten bewegte.

Doch die wilde Bestie wollte es nicht dabei belassen: „Wenn du nicht sofort verschwindest, fresse ich dich!“ Sie setzte noch eine ganze Reihe gewalttätig vulgärer Ausdrücke hinzu. Da versuchte es der mehr und mehr verzweifelte Wolf erneut: „Lass mich doch bitte erklären. Seit ich dich zum erste Mal sah… .“ Doch der immer wütender werdende Werwolf scherte sich nicht um die Worte des bei weiten Schwächeren Artgenossen, stieß ein mörderisches Geheul aus, so furchterregend, dass sogar die umstehenden Bäume zu zittern begannen, fletschte die Zähne und sprang grollend auf den unglücklichen Gray zu, mit der Absicht, den aufdringlichen Wolf zu zerfleischen. Dieser konnte nur knapp den riesigen Pranken entkommen, die seinen zarten Körper zu umschließen und folgend auch zu zerdrücken versuchten, als er in wilder Flucht durch den nächtlichen, nur vom Schein des Vollmonds beleuchteten Wald stürmte.

Zwei Monate ist es jetzt her, dass Gray den Werwolf das erste Mal erblickte und sich zugleich in die massige Ansammlung von Muskeln und Fell unsterblich verliebte. Kein Moment war vergangen, in dem er nicht in Gedanken bei ihm war, sich sanft an dessen Brust schmiegte und seinen Kopf auf seinen Schoß legte. Wochenlang jagte er der einmaligen Erscheinung hinterher, jenem großartigen Wolf, der nicht nur auf zwei Beinen stehen konnte, sondern auch viermal so groß war wie er, von der er weder davor noch später auch nur eine einzige Spur fand. Es war, als hätte der Werwolf niemals existiert. Lediglich die Tatsache, dass auch die anderen Wölfe seines Rudels das unheimliche und zugleich verlockende Geheul gehört hatten, ließ den Grauwolf hoffen. Hoffen, ihn wieder zu sehen. Ihn. Doch so stark auch seine Hoffnung und sein Glaube auf ein Wiedersehen waren, so konnte er doch nicht verhindern, dass seine Zweifel jede Stunde weiter wuchsen. Die Zweifel an ihm, Zweifel an sich, er begann alles und jedes kritisch zu betrachten. Langsam begann er, sich mit der Tatsache abzufinden, dass sie einander wohl nie wieder sehen würden.

Doch da, genau einen Monat später, vernahm er erneut jenes fürchterliche und hasserfüllte, aber dennoch vertraute und zugleich geliebte Geheul. „Er war wieder da!“, Gray konnte sich nicht mehr zurückhalten. Voller Freude stürmte er in die Richtung des Ursprungs jenes Geheuls, rücksichtslos quer über Stock und Stein, rannte er Hasen wie Wildschweine einfach nieder, sprang ohne auch nur eine Moment langsamer zu werden über Wurzeln und Sträucher, bis er ihn endlich sah. Er war schön wie eh und je. Nur vom fahlen Licht des Vollmondes beleuchtet, stand er auf einem Felsvorsprung und heulte voller Inbrunst  den Mond an. Doch Gray, schüchtern wie er war, wagte es nicht, ihn erneut anzusprechen, zu sehr genoss er die Schönheit des Moments, den er nicht zerstören wollte. Zu sehr brannte in ihm immer noch die schmerzhafte Erinnerung vom letzten, leider nicht so sehr geglückten Treffen. „Was soll ich nur sagen? Wie kann ich ihn nur ansprechen? Wie wird er reagieren? Er muss mich ja für einen Vollidioten halten…“,geht ihm durch den Kopf.

Also ging Gray mit eingezogenem Schwanz, zornig und enttäuscht von sich selbst nach Hause, wo er die restliche Nacht heulend und allein in seiner kleinen Höhle, die eigentlich nicht mehr als ein größeres Loch ist, ein kleines, dunkles und feuchtes Loch, verbrachte. Es war nicht die einzige Nacht, die der Wolf so verbrachte, selbst an manchen Tagen brachte er nicht mehr die Kraft auf, sein Loch zu verlassen, und verblieb so Wochen, gezeichnet von tiefster Trauer. Erst nach drei Wochen brach er, von seinen Rudelsmitgliedern motiviert und bestärkt, zu jener Stelle auf, wo er den großen, muskulösen Wolf zuletzt gesehen hatte. Doch der war natürlich nicht da. Trotz der erneut erlebten, niederschlagenden Enttäuschung, konnte Gray ein Fellbüschel finden, ein Fellbüschel, welches den intensiven Geruch des riesigen Wolfes absonderte. „Es ist von ihm“, ging es dem Grauwolf durch den Kopf, als all die Trauer, die den unglücklichen Wolf schon seit Wochen heimsuchte, seiner plötzlichen Freude weichen musste: „Er hat es für mich dagelassen. Für mich!“ Schnell vergaß er die gewaltvolle und so schmerzhafte Erinnerung durch die Ablehnung des Werwolfs, packte das braune Fellbüschel vorsichtig mit seinen scharfen Fangzähnen und marschierte, stolz und voller Freude, endlich etwas von ihm zu besitzen, dass ihn an den riesigen Wolf erinnert voller Lebensenergie zurück nach Hause:„Jetzt habe ich nicht nur etwas bekommen, das mich an ihn erinnert, sondern auch das Versprechen, dass wir uns wiedersehen werden!“ Nun störte es selbst Gray nicht mehr, dass er auch in den nächsten Nächten kein einziges Geheul mehr vernahm oder den riesigen Schatten erneut erblickte, jetzt, wo er das Versprechen erhielt, ihn wiederzusehen. „Wie sollte es sonst sein?“

Einige Tage später war es endlich soweit. Aufgeregt schreckte Gray aus dem Schlaf hoch, als er erneut das vertraute Heulen vernahm. Sein Heulen. „Endlich“, schoss es dem Wolf durch den Kopf, dann rannte er los, so schnell ihn seine Beine tragen konnten, angespornt von den wildesten Träumen. Da sah er ihn. Seine muskulöse Gestalt, von der tiefen Nacht in Schatten gehüllt stand er auf dem Felsvorsprung, seinem Felsvorsprung, von wo aus er den gefüllten Mond anheulte. Dort stand er, inmitten der Lichtung, ein Wesen, so tödlich und brutal, mörderisch wie grausam und dennoch übte diese Kreatur eine anzügliche, verlockende Faszination aus, die weit über Interesse und Neugier hinweggeht. Gray war soweit, sich der Gefahr zu stellen, er war bereit, das Risiko einzugehen und einen Schritt weiter zu gehen. Einen einzigen Schritt, mit dem er die Grenzen der Lichtung überschreitet und sich der Gnade eines Wesens, dessen Hass alles auf der Welt vernichten will, in seiner Verzweiflung und dem Wunsch, angenommen zu werden, auszuliefern.

„Ich bin bereit!“

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⏰ Last updated: Aug 30, 2013 ⏰

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