Die Trauerweide

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Er ging mit seinem Wanderstock, die Sonne blendete seine Augen, geradewegs, vom Wald her kommend, nach dem See. Das blau-grüne Wasser reflektierte die Sonnenstrahlen zu ihm und er wollte gerade einen Rastplatz aufsuchen, da fiel ihm eine der Weiden, der vielen Trauerweiden, in das Auge. Zunächst wusste er nicht, was an ihr so besonders sei, aber bald wurde es ihm ganz klar: Der Stamm der Trauerweide schimmerte in einem rötlichen Ton, ja nicht wie die anderen erschien er grün, nein vielmehr war er rot. Durch diesen Umstand bewegt trat er also an sie heran und sah es mit den Augen nun von Nahem: Er hatte sich nicht getäuscht, sie war gänzlich rot gefärbt, nur ihre traurigen Blätter, die herabhingen waren gelb, wie es eben für eine Trauerweide üblich ist. Ihn packte die Begierde nach einer Erklärung für diese Begebenheit und so drehte er sich um nach dem Weg, der nicht fern vom See und der Weide verlief und erblickte dort zwei in Zürcher Deutsch sich lautstark unterhaltende Frauen fortgeschrittenen Alters. Bei sich dachte er, dass diese alten Tanten sicher eine Lösung zu seiner Frage parat hätten, da man ihnen ihr Alter ansah und sie einheimisch klangen und sprach sie wie folgt an: „Damen, wollt ihr vielleicht so nett sein und mir erklären, wenn ihr es denn vermögt, was es mit dieser roten Trauerweide auf sich hat. Denn ich bin ein Wanderer und Interessierter, aber ich bin ortsfremd und sehr verwirrt durch diese Begegnung. Die eine aber begann zu erzählen:

Bis noch vor wenigen Jahren lebte hier bei uns, im schönen Türlen, dem kleinen Ort, ein junges, wirklich liebreizendes Mädchen. Diese hieß Élodie und war uns allen im Ort eine große Freude anzusehen. Sie war ein wahrer Engel, was Treue und auch Fleiß betrifft, denn sie ließ sich sowohl in dem Haushalt, als auch in der Kirche nie etwas lumpen. Sie half der Mutter bei der Hausarbeit und dem Vater am Wochenende bei der Gartenarbeit. Doch wie es mit jedem ist, der so vorbildlich sein Leben führt, hatte auch sie so ihre negativen Aspekte. So meinte sie wohl eines Tages, der Vater und die Mutter waren nach Zürich gefahren, um Kleidung einzukaufen, es sei eine gute Idee sich in den Sihlwald zu begeben und dort die Zeit mit Herumtollen todzuschlagen. Die Langeweile im Sommer, die sie hatte, da ihre Kameraden alle noch auf dem Feld helfen mussten, war es, die sie allein in den tiefen Wald trieb. Sie ging zunächst noch den Weg entlang, doch als sie eine kleine Lichtung mit wunderschön blühenden Blumen ab des Weges entdeckte, da verließ sie denselben und eilte durch den unbeständigen Teil des Waldes hindurch. Blumen pflückend und daraus Kränze flechtend saß sie auf dem Boden mit ihrem hellblauen Kleid in dem saftig grünen Gras. So weit, so gut, doch es musste ja geschehen, wie es geschehen sollte und sie erfasste auf einmal den Geruch von backendem Brotteig, den sie nur wenig weit von der Lichtung verortete. Um dem Geruch nachzufolgen stand Élodie nun also, sich die Kränze in die Haare trappierend, auf und ging dem Duft nach. Nur wenige Schritte war sie gegangen, da sah sie bereits eine kleine Hütte, deren Schornstein rauchte und von der her Zitterspiel zu vernehmen war. Während sie sich annäherte und schon das geöffnete Fenster sah, aus dem die Musik kam, vernahm sie zu dem Zitterspiel noch leisen Gesang, einer Herrenstimme, der wohl etwas von Karelien und Eis und weißem Schnee sang, wo es doch, wenn es auch im Wald recht kühl war, hoher Sommer war. Élodie ging nach der Türe und klopfte dreimal mit geballter Faust an und rief noch ein „Schönen guten Tag" hinterher. Dieser Gruß wurde nicht erwidert, aber das Zitterspiel und der Gesang endeten abrupt, gefolgt von schweren Schritten, die sich der Türe näherten. Ein alter, betagter Mann tat die Türe auf und blickte sie mit weiten und von Augenringen umfassten Augen an. Nun wurde der Gruß auch erwidert und der Alte fragte die Kleine, was sie denn zu ihm führe. Diese meinte, sie haben den köstlichen Duft von frischem Brot wahrgenommen und wolle nun fragen, ob sie wohl etwas abbekomme, da sie heute noch nichts gegessen habe, weil ihre Eltern in der Stadt seien. „Komm denn mit", war, was sie als Antwort bekam und so folgte sie dem buckligen Einsiedler nach, die Türe schließend und die Stube betretend. Der Zeigefinger des Hausherren verwies sie auf die Bank, die an dem Tisch stand und mit Kissen bedeckt war. Die brave Élodie nahm also Platz und legte ihre Hände auf den Tisch, währenddessen der Alte ein Blech mit noch dampfenden Bürli auf den hölzernen Tisch stellte und sich auf einen schön mit Schnitzereien verzierten Stuhl setze. Als das Anrichten abgeschlossen war, wurde sie dann aufgefordert sich doch zu bedienen und beide taten dies und schwiegen während sie aßen. Nachdem sie dann beide je drei Bürli gegessen hatten, da fasste sich das Mädchen ein Herz und sprach den Alten, das Schweigen brechend, an: „Wer seid Ihr eigentlich, lieber Onkel und warum wohnt Ihr hier so ganz allein im Wald?" Darauf sagte der Einsiedler: „Liebes Kind, ich bin von meiner Familie verstoßen worden, weil ich keine Kinder mit meiner Frau zu zeugen vermochte." Damit gab sich Élodie aber nicht zufrieden und hakte deshalb nach: „Aber wo ist denn dann Eure Frau, von der Ihr redet, lieber Onkel?" Mit einem tiefen Seufzen beantwortete der Junggeselle auch diese Frage, indem er ihr erklärte, sie habe ihn verlassen, als sie bemerkt hatte, dass sie kein Kind mit ihm bekommen könne und ging zurück zu ihrer Mutter und wurde mit seinem Vetter verheiratet. Er betonte die Schmach und stellte klar, dass er deshalb im Wald mit einigen Ziegen und einem kleinen Feld lebe, da er es nicht ertragen könne, unter die Augen der Dorfbewohner oder gar seiner Verwandten zu treten. Dies alles bedauerte das Mädchen sehr und so sprach sie zu dem Greis in aller ihrer sechzehnjährigen Naivität: „Lieber Onkel, ich finde eure bescheidene Hütte so liebreizend und ich liebe den Wald sehr, würdet Ihr mich hier für die Zeit, bis der Sommer vorüber ist nicht hier wohnen lassen und mich Euch bei der Hausarbeit unterstützen lassen? Denn meine Eltern plagen mich mit der Feldarbeit und drängen mich Lucas, den Nachbarssohn, noch diesen Spätsommer zu heiraten." Der Gebetene aber schüttelte den Kopf und suchte sie von ihrem Vorhaben abzubringen, indem er Ausreden erfand, um sie nicht zu kränken, denn er mochte sie gerne. Als er aber schließlich bemerkte, dass sie nicht abzubringen war von ihrem an Hohn gegenüber den Eltern nicht zu übertreffenden Vorhaben, da erzählte er ihr Schauermärchen vom Wald und berichtete von Mord und Totschlag und schlug ihr vor, er brächte sie sicher nach Hause, wenn sie denn wolle. Das Mädchen war jedoch nicht sehr beeindruckt durch seine Rede und lauschte seinen Worten seelenruhig, während sie sein Gesicht gut musterte, denn der Alte, der ihr greis und grantig erschienen war, der kam ihr auf einmal wie ein liebenswürdiger Großvater vor und so wollte sie um so mehr bei ihm bleiben. Wenige Momente später, der Einsiedler war gerade dazu übergegangen von einem rotkäppigen Mädchen und dessen Begegnung mit einem Wolf zu erzählen, da zog auf einmal eine Böe, während sich draußen der Himmel schlagartig verdunkelte, durch das geöffnete Fenster des Hauses und heulte ganz laut. Das Mädchen, das vor Schreck aufgesprungen war, setzte sich nun wieder, wobei es dann plötzlich wieder aufsprang, da es sehr laut donnerte. Der Alte meinte nun, dass es gut sein möge, dass ein Blitz jetzt bald hier in der Nähe einschlage, denn er hatte eine Bauernregel auf die Zeit zwischen einem Blitz und dem kurz darauf folgenden Donner angewandt. Durch diese Aussage und noch nachfolgenden Berichten des Alten über die Schäden von Blitzen wurde es dem Mädchen plötzlich ganz Angst in der Hütte und es wünschte, da draußen noch kein Regen zu hören war, lieber nach Hause gebracht zu werden. Also nahm der Greis das Mädchen bei der Hand und gab ihr einen seiner Mäntel, sich selbst einen anziehend und tat die Türe auf und ging zusammen mit ihr hinaus. Von Donnern und Blitzen gehetzt und in der Angst, es könne beginnen zu regnen, eilten die beiden nach dem Waldrand. Dort angekommen und weiter in Richtung Dorf gehend bekam das Mädchen auf einmal einen Tropfen von Wasser auf die kleine Nase, was sie dazu veranlasste, ihren Gang zu beschleunigen. Der alte Einsiedler aber, welcher schon durch das Eilen durch den Wald sehr angestrengt war, kam dieser Geschwindigkeit nicht weiter nach und so glitt sie ihm aus der Hand. Zunächst jedoch blieb er trotz alledem hinter ihr bis sie dann wegen eines Blitzeinschlags in einen Baum nicht weit entfernt von ihr und wegen des immer stärker auf sie niederprasselnden Regens mit ihrer Furcht durchbrannte und wie wenn sie vom Satan höchstpersönlich verfolgt würde, nach dem See, in dessen Nähe das Haus ihrer Eltern lag, rannte. Dabei verlor der Alte sie allerdings und eilte fortan nur noch ihren Umrissen nach, die er durch seine kurzsichtigen Augen noch erkennen konnte. Élodie aber achtete vor lauter Todesangst nicht mehr auf den Grund unter ihren Füßen und so stolperte sie, dieser Weg hier war noch nicht abgeflacht und befestigt, über eine mächtige Wurzel einer Weide und stürzte unter lautem Geschrei und mit voller Wucht ihres Laufes gegen die Trauerweide, wo sie sich den Kopf unter starken Blutungen aufschlug. Vom Blutverlust und dem Aufprall ohnmächtig lag sie also am Fuße der Weide hier und tränkte den Boden mit Blut. Nun aber kam der Alte herbei, der ihrem Schrei folgen konnte und fand sie da unansprechbar an der Weide liegend und versuchte sie durch Rütteln und Ansprechen zu erwecken, doch sie reagierte auf seine Versuche nicht. Voller Vorwurf, er habe sie mit Schauermärchen in den Tod durch den Sturz getrieben und dass er ihr nicht zu helfen vermochte, rannte er nach dem See und sprang in ihn hinein, um sich selbst zu ertränken. Doch dies, er hatte gerade seinen Kopf unter Wasser getaucht, wurde erheblich beschleunigt, indem ein Blitz am See einschlug und dem Leben des greisen Alten ein Ende bereitete, sodass er noch vor dem Mädchen, das wohl erst nach einigen Augenblicken verschieden war, zu Tode kam. Vom Blut getränkt und von dem Tod in jener Nacht färbte sich die Rinde dieser Trauerweide rot, wie das Blut, welches vergossen wurde. Dies sah alles Élodies Mutter von dem Estrich aus, auf dem sie gerade die Wäsche vor dem undichten Dach retten wollte und sie war machtlos, wie ihr Gatte, denn den Vater hatte die Grippe frühzeitig nach Hause und in das Bett gezerrt und die Mutter war durch das, was sie gesehen hatte so versteinert geworden, dass sie nicht einmal um Hilfe schreien hätte können.

Der Fremde schwieg, doch die alten Tanten schien dieses Ereignis nicht mehr zu schockieren, sie haben es wohl schon so oft gehört und erzählt. Der Gast bedankte sich nicht einmal für die Auskunft und kehrte den Damen den Rücken und setzte sich an den See und starrte in das Nichts. Die Alten aber ließen sich gar nicht beirren und waren auch keineswegs beleidigt, vielmehr erheiternd fanden sie es, wie verstört der fremde Herr sie verlassen hatte und sie riefen: „Schöns Dägli no" und so zogen sie fort, den Weg weitergehend und sich lauthals artikulierend; Gä gä gä schnattert die Gans.

Felix Zink, Efringen-Kirchen den sechzehnten Juli zweitausendeinundzwanzig.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Aug 09, 2021 ⏰

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