Kapitel 5 - Nevis

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Ich führte Bellina zum Strand. In Norddeich gab es kein Wasser zum Schwimmen, jedenfalls waren wir früher nie im Wasser gewesen. Bestimmt gab es wagemutige Leute, die in diese Brühe gingen. Damals waren wir, sofern wegen der Ebbe das Wasser weg war, durch das Watt gewattet. Das hatte ich heute mit Bellina vor. Ich hatte noch so vieles mit ihr vor. Nach Norddeich würden wir an die Ostsee fahren, danach ginge es für ein halbes Jahr nach Paris und zum krönenden Abschluss käme der Heiratsantrag. Holla die Waldfee, ich sollte aufhören, daran zu denken, sonst würde ich viel zu früh mit der Botschaft herausrücken. Konzentriere dich, Nevis. Konzentriere dich auf das Hier und Jetzt.
Aus meinem Rucksack holte ich ein paar Gummistiefel heraus, zog die anderen aus und packte stattdessen diese in den Rucksack. Die Gummistiefel zog ich an. Bellina schaute mir dabei zu. Fast vergessen. In meinem Rucksack kramte ich weiter, bis ich fündig wurde. Ein paar neue Gummistiefel extra für meine Freundin. Ich hatte sie mit meiner Mutter zusammen gekauft. Die Stiefel waren blau mit roten Erdbeeren und kleinen Herzchen. Ich reichte sie ihr. Verwundert legte sie ihre Stirn in Falten.
"Gefallen sie dir nicht?"
"Doch, doch. Sind die denn für mich?"
Ich drehte mich um meine eigene Achse. "Für wen denn sonst? Siehst du ein anderes Mädchen, was auf diese Stiefel stehen könnte?"
"Das hättest du nicht machen müssen.", dennoch fiel sie mir dankbar in die Arme.
Meine schöne Prinzessin wollte sich ebenfalls die Stiefel anziehen, doch das übernahm ich. Wie Cinderellas Charming wechselte ich also ihre Schuhe. Ich konnte es mir nicht verkneifen, sie an den Füßen zu kitzeln, was ihr ein vergnügtes Quietschen entlockte. Gemeinsam marschierten wir durch das Watt.
Als ich eine Muschel im Watt sah, bückte ich mich. Nur wenige Meter entfernt fand Bellina auch eine und hob sie auf. Das ging noch einige Zeit so weiter, bis unsere Hände voll von Muscheln waren, weswegen ich eine Tüte aus dem Rucksack angelte, in dem wir die gesammelten Muscheln verstauten. Das Watt unter uns machte schmatzende Geräusche. Zwischendurch waren hier und da kleine Häufchen, die aussahen, wie ein Schneckenhaus oder Fußabdrücke. Die Fußabdrücke erinnerten mich an die Geschichte, die man uns früher im Religionsunterricht beigebracht hatte. Spuren im Sand. Darin ging es darum, dass ein Mann auf sein bisheriges Leben zurückschaute und sich wunderte, warum der Herr meist neben ihm hergegangen war, aber in den sicheren Zeiten nur die Spuren des Mannes im Sand zu sehen waren. Daraufhin erklärte Gott, in dieser Zeit habe er den Mann getragen.
Unsere Schuhe und Hände wuschen wir uns unter dafür vorgesehenen Wasserhähnen.
Zum Abschluss von meiner Planung hier in Norddeich gehörte das sogenannte Märchenschiff als Krönung des Tages. Mir war klar, dass wir als Märchenfiguren die Märchen in- und auswendig kennen sollten, aber womöglich gab es neue, die wir noch nicht kannten.
Da der Türrahmen tief hing, musste ich meinen Kopf einziehen, um einzutreten. Der Duft nach verschiedenen Früchten, wie Orangen und Äpfeln mit Gewürzen wie Zimt, flog uns entgegen, verbarg beinahe Bellinas schokoladigen Geruch. Zum Glück nur beinahe. Die Atmosphäre, die auf uns zu strömte, war magisch und voller Kindheitserinnerungen meinerseits. "Moin, willkommen in unserem zauberhaften Märchenschiff. Sucht euch bitte einen Platz aus. Wollt ihr einen Punsch?"
"Gerne."
"Ein Schluck Alkohol in euren Punsch?"
"Nein, besser nicht, wir müssen noch fahren.", verneinte ich mit einer mehr oder minder notdürftigen Lüge. Das Argument funktionierte. In der Menschenwelt konnte man mit Alkohol am Steuer verhaftet werden. In Märchenwald gab es dafür keine Strafe, denn wir hatten härtere Drogen, wie zum Beispiel der Feenstaub. Natürlich fuhren wir nicht mit dem Auto zu meinem nächsten Urlaubsziel, sondern reisten mit dem Portal, doch hierfür durfte kein Alkohol konsumiert werden, denn eine Reise durch das Portal konnte bekanntlich gefährlich werden, wenn man sich nicht konzentrierte. Das heißt bei einer Reise durchs Portal waren Alkohol, Feenstaub oder ähnliches verboten.
"War auch nur ein Scherz. Unser Schiff ist für Kinder.", wie um seine Worte zu unterstreichen drehte er sich in alle Himmelsrichtungen.
Das Zelt, in denen die Märchen erzählt worden, war bereits gut befüllt. Kinder saßen mit ihren Eltern gemeinsam auf dem Boden. Heute würde ich statt mit meiner Familie mit meiner Freundin hier hocken und dem Geschichtenerzähler lauschen.
Der Mann reichte uns jeweils einen Becher, welche wir dankend entgegen nahmen. "Welche Märchen werden Sie denn erzählen?", wollte Bellina wissen.
"Duzt mich bitte, ich mag es nicht gesiezt zu werden. Mal sehen. Vielleicht Rumpelstilzchen oder Pechmarie. Wir werden sehen, wozu ich Lust habe. Haben Sie ein Märchen, welches Sie mir empfehlen können?"
Diesmal mischte ich mich ein. "Wie wäre es mit die Schönen und das Biest? Meine Freundin hier ist eine Französin und sie kennt das Märchen am allerbesten, falls sie Fragen haben. Fast würde es einem vorkommen, sie wäre höchstpersönlich diesem Märchen entsprungen."
Daraufhin warf mir meine schöne Prinzessin einen geschockten Blick zu. Niemand in Menschenwald durfte wissen, woher wir kamen. Wahrscheinlich würde der Erzähler es nicht merken, wer wir waren, obwohl er ein Träumer war. Jedoch kann es sein, dass er seinen Job nur fürs Geld und nicht für die leuchtenden Augen der Kinder machte. Würde ich diese Arbeit vom Märchen erzählen machen, würde ich mich jeden Tag mit voller Eifer sowie Freude auf die Kinder freuen. Ich war jemand, der gerne Kinder um sich herum hatte. Gerne hätte ich irgendwann eigene Kinder, jedoch nur mit der Richtigen. Bellina war die Richtige für mich, das wusste ich.
"Auf das Angebot komme ich zurück. Ich melde mich bei dir, wenn ich Hilfe brauche das Märchen zu erzählen. Die Kinder sollten die wahre Geschichte von Gabrielle-Suzanne de Villeneuve erfahren, nicht nur die Version von Disney kennen."
"Hinter jeder Geschichte steckt ein Stück von Wahrheit.", murmelte meine Freundin bissig.
Das stimmte. Manchmal waren die wahren Geschichten zuunseren Eltern eine Mischung aus verschiedenen Geschichten.

"Wohin gehen wir jetzt?"
Der Märchenerzähler hatte nach der Geschichte von Rumpelstilzchen und der Pechmarie, den Kindern die Geschichte von der Schönen und ihrem Biest vorgetragen. Bellina durfte ihn unterstützen und die Kinder lachten ausgelassen mit ihr. An ihren Augen sah ich, wie sehr ihr das Kinderlachen gefiel. Einst dachte ich, dass nur Geschwisterkinder wissen konnten, was es heißt zu teilen, aber der Charakter meiner Freundin bewies mir dauernd das Gegenteil. Sie wäre einmal eine großartige Mutter. Oh Mann, ich musste aufhören an die Zukunft zu denken.
"Das verrate ich dir nicht. Andererseits... Okay, ich lüfte das Geheimnis. Momentan sind wir in Norddeich an der Nordsee."
"Dass wir an der See sind, habe ich mir gedacht. Fischbrötchen, das Moin, die Seehunde...", warf die Schönste ein. "Norddeich ist in Deutschland, oder?"
"Richtig. Wir sind in Norddeutschland. Hat dir Herbert was verraten? Als nächstes Ziel habe ich übrigens die Ostsee eingeplant. Dort nächtigen wir und morgen unternehmen wir noch was. Wie hört sich das an?"
"Herbert hat mir gesagt, dass er sich fragt, wie du es geschafft hast mit der Überraschung. Wenn ich drauf achten würde, würde ich wissen, wo wir sind. In jeder Ecke gäbe es ein Schild, auf dem die Antwort steht. Doch er hat mir empfohlen, die Überraschung nicht kaputtzumachen, die Schilder unbeachtet zu lassen, denn du hast dir viel Mühe hierfür gegeben. Das habe ich meiner Neugier zum Trotz gemacht.", auf meine letzte Frage antwortete sie mit einem "Ich lass mich überraschen.".
Ich gab ihr einen Zettel, auf dem ich mir eine Adresse notiert hatte. Dort würden wir uns treffen, nachdem wir das Portal betreten hätten. "Denk an diese Adresse.", bläute ich ihr ein. "Magst du zuerst?"
Bellina schüttelte den Kopf. "Wenn du zuerst ankommst, kann ich dir in die Arme fallen. Das ist mir lieber. Wenn ich ankomme und du bist noch nicht da... Bitte, geh du zuerst."
"Okay, mach ich. Ich freue mich auf dich."
Sie drückte meine Hand und ich küsste sie kurz. Dieser winzige Moment, in denen unsere Lippen sich trafen, reichte aus, sodass die Schmetterlinge in meinem Bauch aufwirbelten. Ich taufte dieses Gefühl Mini-Explosion. Wie in Nox' Lieblings-Science-Fiction-Filmreihe gesagt wird, dass es nur eine Drohung ist und dennoch der ganze Planet in die Luft geht so war es ebenfalls bei diesem Kuss. Eigentlich war es nur ein kurzer, kleiner Kuss, doch er reichte aus, dass ich von Gefühlen überflutet wurde.
Mit diesem Gedanken stieg ich durch das magische Portal, welches gerade vor mir erschien. Etwas kitzelte mich, wollte mich dazu bringen, die Augen zu öffnen. Meine Augen wurden schwer. Mein Körper rebellierte gegen mich, wollte mich ebenso zwingen, die Augen zu öffnen. Ich schob die Gedanken an den Zwang beiseite und konzentrierte mich auf mein Urlaubsziel. Vor meinem inneren Auge erschien ein erzeugtes Bild mit Bellina und mir am Strand. Wir küssten uns stürmisch im kühlen Sand unter der warmen Sonne. Ihre Sommersprossen blühten auf, besonders die niedliche Sommersprossen-Rose. In meinem Unterleib zuckte es ungewohnt.
Dadurch spuckte mich das Portal quasi aus seiner Welt an die ausgesuchte Adresse - den Strand. Unsanft landete ich auf dem weichen Sand. Besser hier als auf Stein zu landen. Für Bellina hatte ich eine andere Adresse notiert, wo ich jetzt hin gehen würde, um sie wenn nötig aufzufangen.

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