Kapitel 3

23 4 0
                                    

Emrys Moore:

Geweckt werde ich von meinem Wecker. Genervt taste ich nach dem richtigen Knopf und schalte ihn aus. Müde drehe ich mich zur Seite, um weiterzuschlafen, überwinde mich nach einer halben Stunde, in der ich an die Decke starre und weiße Flecken auf der weißen Tapete zähle, aufzustehen. Ich hasse lange wachbleiben. Warum muss ich nur so Probleme mit dem Einschlafen haben? Könnte das nicht jeder andere haben? Leise vor mich hinmurmelnd richte ich mich auf und schlurfe zu dem Kleiderhaufen, nehme mir ein dunkelgraues Oberteil und eine dunkelblaue Jeans aus dem Haufen. Dazu suche ich noch ein Paar einfacher Socken, die nicht ganz zerstört sind.

Meinen Vater treffe ich in der Küche. Überraschenderweise ist er wach und isst etwas am Esstisch. ,,Morgen, Dad", begrüße ich ihn murmelnd, erwarte aber keine Reaktion. Ich habe recht, mein Vater guckt nicht mal auf. Seufzend schnappe ich mir ein Brot, beschmiere es mit Butter und lege eine Scheibe Käse drauf, dann packe ich es in eine Brottüte und verlasse die Küche. Wieder oben gehe ich auf Toilette - mache ich immer direkt nach dem Aufstehen, heute habe ich es vergessen - und Zähne putzen. Im schmutzigen Spiegel sehe ich ein leicht gebräuntes Gesicht mit hellbraunen Augen, auf meinem Kopf tummeln sich unordentliche, blonde Locken. Mit etwas Wasser versuche ich, eine halbwegs akzeptable Frisur aus meinen Haaren zu machen, was eher weniger gut funktioniert. Nach ein paar Minuten gebe ich es wieder auf. Beim Rausgehen bemerke ich, dass mein T-Shirt etwas nass geworden ist. Noch genervter als vorher stopfe ich ein paar Bücher in meinen Rucksack - ich weiß nicht, ob es die richtigen sind - schmeiße meine Federmappe hinterher, gefolgt von meinem Essen. Als ich einen Blick auf meinen Wecker werfe, sehe ich, dass der Unterricht in einer Viertelstunde beginnt. Pünktlich schaffe ich es wohl nicht mehr. Aber wer braucht schon Pünktlichkeit? Im Endeffekt bringt es einem nichts mehr, pünktlich zu sein. Wir sterben irgendwann alle. Seelenruhig gehe ich die Treppe runter. Mein Blick schweift über die Bilder an der Wand. Wie erstarrt bleibe ich stehen und nehme eines der Bilder in die Hand. Es zeigt eine glückliche Frau neben einem lachenden Mann, beide strahlen in die Kamera. Die Frau hält ein kleines Kind im Arm. Überrascht bemerke ich, dass mir Tränen in die Augen steigen. Mit einer schnellen Bewegung wische ich die Tränen weg, lege das Bild auf die Stufen, ohne einen weiteren Blick darauf zu werfen und gehe weiter runter. Ich möchte keine Bilder meiner Familie sehen. Als wir noch eine Familie waren. Dann ist meine Mutter abgehauen, mein Vater ist in ein Loch gerutscht und nie mehr rausgekommen. Ich weiß nicht, wie wir immer noch in dem Haus leben und ich noch nicht wo anders hingebracht wurde. Könnte daran liegen, dass unser Nachbar alles für uns regelt. Er mag mich, ich weiß nicht, warum. Ich weiß auch nicht, warum ich ihn nicht mag. Könnte daran liegen, dass er zu viel tut. Es wirkt, als wäre er sich nicht sicher, ob ich irgendwann alleine leben könnte. Ob ich mich um meinen Vater kümmern könnte. Zweiteres kann ich höchstwahrscheinlich, will ich aber nicht. Mein Vater sollte alleine klarkommen können. Sobald ich alt genug bin, ziehe ich aus. Mache ich mir ein schönes Leben ohne ihn. Das wollte ich immer. Doch inzwischen habe ich verstanden, dass es in der Realität anders aussieht. Ich brauche Geld, um hier rauszukommen. Doch Leute wie mich stellt niemand gerne ein. Niemand mag Leute, deren Eltern ihr Leben nicht mehr im Griff haben, die schon zu früh mit Alkohol in Kontakt kamen. Darum leben in Swinfort Hills auch kaum wohlhabende oder anständige Leute. An meiner Schule, der Swinfort High - sehr einfallsreich von den Gründern -, sind nur Leute wie ich. Die Eltern kümmern sich nicht um ihre Kinder, die dann den ganzen Tag am Teufelsort rumhängen, trinken oder Drogen nehmen. Der Teufelsort ist eine kleine Hütte am Waldrand, an der ältere Schüler Drogen und Alkohol verticken. Ich trinke eher selten, Drogen habe ich noch nie genommen. Ich möchte nicht wie mein Vater enden. Eigentlich bin ich nur am Teufelsort, um nicht hier zu sein.

Nachdenklich bleibe ich stehen und betrachte die matschige Wiese, die zwischen mir und der Schule liegt. Entweder ich laufe dort rüber, komme fünf Minuten früher in den Unterricht - trotzdem noch zu spät - oder ich laufe drum herum und riskiere, die ganze erste Stunde zu verpassen. Das könnte dafür sorgen, dass ich zur Schulleiterin geschickt werde, die halbherzig bei meinem Vater anruft, der den Anruf nicht mitbekommt, und dann nachsitzen muss. Wähle ich die erste Variante, komme ich zwar noch vor Stundenende und muss nicht deshalb zur Schulleiterin, habe dann aber schmutzige Schuhe, werde ins Direktorat geschickt, mein Vater wird angerufen, welcher den Anruf nicht mitbekommt, und ich werde zu einer Stunde nachsitzen verdonnert. Tolle Aussichten. Seufzend mache ich mich auf den Weg um die Wiese. Im Laufschritt eile ich den Gehweg lang. Vielleicht schaffe ich es noch vor dem Gong in den Klassenraum, dann bin ich nicht zu spät und bekommen kein Nachsitzen. Ich habe keine Lust, noch eine Stunde länger nachzusitzen. Auch wenn es einen Trick gibt, wie man dem Nachsitzen entgehen kann.

Elementa - Seven ElementsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt