Langsam füllt sich der Saal. Die ansteigende Lautstärke schmerzt in meinen Ohren und mein Brustkorb verengt sich. Ich hasse große Räume und kann es nicht leiden, wenn jemand hinter mir sitzt und mir über die Schulter schaut. Genervt lege ich den Stift beiseite und betrachte das vollgekritzelte Blatt in meinem Notizbuch. Während ich die Zeilen überfliege, zieht sich etwas in mir zusammen.
An manchen Tagen ertrage ich den Spiegel meiner Poesie kaum. Meine innersten Gedanken, die sich mir nur auf leeren Seiten zeigen und ansonsten im Schatten meines Unterbewusstseins leben. Schnell reiße ich die Seite heraus, zerknülle sie und ziele auf den Mülleimer, der schräg gegenüber neben einer Säule steht.
»Hey, du Umweltverschmutzerin.« Emma hebt den Papierball auf, der direkt vor ihren Füßen gelandet ist. Ich habe sie gar nicht kommen sehen.
»Was machst du denn hier?«, frage ich und blicke nervös zwischen ihrem Gesicht und dem zerknüllten Papier in ihrer Hand hin und her. »Ich dachte, du kommst heute nicht?«
Emma lässt meine Worte in den Papierkorb fallen und verschränkt die Arme. »Ach, hast du den Platz da etwa nicht für mich reserviert?« Sie schiebt meine Beine von der Bank, setzt sich neben mich und wirft ihre Tasche krachend auf den Boden. Dann blickt sie suchend durch die Reihen und senkt die Stimme. »Nur weil ich Ingo nicht sehen möchte, lasse ich mir doch Professor Doktor Tunis nicht entgehen. Also seinen Lernstoff, meine ich natürlich. Immerhin schreiben wir nächste Woche Klausuren.«
»Ach, seinen Lernstoff?« Ich grinse und trommle mit meinem Stift gegen das Schreibpult. »Ist klar. So wie du ihn immer anhimmelst, spielen sich bei dir im Kopf die krankesten Sexfantasien ab, während er seine Vorlesung hält. So eine Studentin-Professor-Affäre wäre echt heiß. Er könnte dir im Bett von Shakespeare erzählen, während du ihm ...«
Emma hält mir den Mund zu, bevor ich weitersprechen kann. »Shhhht! Mein Gott, musst du immer so vulgär sein? Gönn mir doch einfach ein bisschen Eye Candy, Tony. Ich kann das gerade gut gebrauchen.«
In diesem Moment ertönt die sonore Stimme unseres Professors durch die Lautsprecher im Hörsaal, füllt sofort den gesamten Hörsaal und bringt die Gespräche um uns zum Verstummen. Emmas Wangen färben sich rot.
»The eyes of others our prisons; their thoughts our cages.« Er tritt hinter seinem Podium hervor und geht mit langsamen Schritten in die Mitte des Saals. Dabei sieht er durch die steilen Sitzreihen, als würde er Blickkontakt mit jedem Einzelnen seiner Zuhörer suchen. »Wer von Ihnen, liebe Studentinnen und Studenten, kann mir sagen, von welcher britischen Schriftstellerin dieses Zitat stammt?«
Etwa dreißig Hände schießen in die Höhe.
»Virginia Woolf.«
Sofort sind hundert Augenpaare auf mich gerichtet. Ich hasse es, angestarrt zu werden. Auch wenn ich in diesem Fall wohl selbst schuld daran bin.
»Das ist richtig, Frau Johannsen.« Professor Tunis kneift die Augen zusammen. »Aber ich kann mich nicht daran erinnern, Sie aufgerufen zu haben.«
Emma kickt mich unter unserem Pult mit dem Fuß. »Er kennt deinen Namen«, wispert sie mir zu und wackelt mit den Brauen. Ich verdrehe die Augen. Natürlich kennt er meinen Namen. Ich war ja erst gestern in seiner Sprechstunde, um mit ihm über meine Hausarbeit zum Thema Gender Roles and Female Power in Oscar Wilde's »The Importance of Being Earnest« zu sprechen. Und ehrlich gesagt war an diesem Tag ich diejenige mit den kranken Fantasien. Er ist nun mal verdammt heiß.
»Wenn Sie schon so redefreudig sind, können Sie mir doch sicherlich sagen, wie Sie diesen Satz interpretieren.«
»Die Erwartungen der anderen sind unsere Gefängnisse,« antworte ich sofort. »Wir sind gefangen in dem, was andere über uns denken und in uns sehen. Und nur, wenn uns das egal ist, können wir wirklich frei sein.«
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Meine Worte in deinen Händen (London Feelings 1)
RomanceEin geheimnisvolles Tagebuch, ein mysteriöser Fremder und eine junge Frau auf der Suche nach Antworten ... Seit Tony vor vierzehn Jahren beide Eltern verloren hat, kommt niemand mehr an die junge Anglistik-Studentin heran. Ihr Herz ist taub, Emotion...