"Du kannst nicht zufällig singen?"

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Louis fährt erschrocken zusammen, als die gut gedämmte Holztür mit einem heftigen Knall ins Schloss fällt. Nur einen kurzen Augenblick später rollen zwei Drumsticks auf dem Teppichboden herum und bleiben letztendlich vor den Füßen des 17-Jährigen liegen. Scheiße, Scheiße, Scheiße! Das kann doch Alles jetzt nicht wahr sein!? Völlig verzweifelt schlägt der junge Mann die Hände vor seinem Gesicht zusammen und versucht vergeblich das gerade Geschehene zu verstehen. Sein Traum war zum Greifen nah- so nah, dass er lediglich noch seine Hand danach hätte ausstrecken müssen. Doch von jetzt auf gleich scheint alles zerplatzt zu sein, wie eine riesengroße Seifenblase die vom Wind in ein Gebüsch getrieben wurde. Sie waren doch kurz vor dem so hart erarbeiteten Ziel, endlich über den Status der "Schulband" hinauszukommen. Sie standen so knapp vor dem alles entscheidenden Durchbruch, den sie sich gemeinsam, als ein unzertrennliches Team, erarbeitet hatten. Sie sind immer und in jeder Lebenslage füreinander durchs Feuer gegangen. Haben seit Kindertagen an, gemeinsam Höhen und Tiefen durchgestanden. Und stets war ihr Motto: Alle für alle in jeder Konsequenz! Doch das ist nun offensichtlich Vergangenheit....

Warum mussten sich Jonas und Lars auch genau jetzt beide in Lana verlieben?! Wie konnte er nur zulassen, dass diese Tatsache die ganze Band zerstört!? Woher sollte er auch ahnen, dass das alles so aus dem Ruder läuft?! Verdammte Scheiße!  Hätte ich das nicht irgendwie verhindern können?  Stumm laufen ihm einzelne Tränen die Wangen hinunter.  Sie alle hatten einen gemeinsamen Traum: Irgendwann von der Musik leben zu können. Louis übt dafür schon seit er denken kann und hat durch seine Eltern, die diesen Traum verwirklichen konnten und immer noch mit ihrer Musik erfolgreich unzählige Hallen der Welt füllen, die bestmögliche Unterstützung an seiner Seite.  Dafür ist er ihnen so unfassbar dankbar und möchte sie stolz machen! So viel haben die beiden seiner kleinen Band schon ermöglicht- angefangen bei den ganzen Musikinstrumenten bis hin zu arrangierten Gigs, die sie bei kleinen Veranstaltungen spielen durften. Traurig erhebt sich Louis von der Fensterbank und läuft gedankenverloren im Proberaum auf und ab. Wehmütig lässt er seine rechte Hand dabei über das Schlagzeug und den Bass gleiten, bis er schließlich am Mikrofonständer ankommt. Wow! Vielen herzlichen Dank auch für das Zerstören meiner Träume! Eine Ein-Mann-Band ...das wär's doch. Ist doch überhaupt kein Problem gleichzeitig Gitarre und Klavier zu spielen und dabei noch zu singen! Nichts leichter als das- Super-Louis richtet das schon!

Nachdem ihm langsam aber sicher das Ausmaß dieses ganzen Dramas und die daraus folgenden Konsequenzen bewusstwerden, kann Louis nicht länger an sich halten. Er spürt, wie eine unfassbare Welle an Wut, Enttäuschung und Aggression sich in seinem Inneren ausbreitet und ihm die Luft zum Atmen nimmt. Mit bebendem Brustkorb steht der Junge völlig verlassen auf dem improvisierten Podest ihres Proberaums. Die Hände vor Wut zu Fäusten geballt und nicht mehr in der Lage seine Emotionen zu kontrollieren. Voller Wucht tritt er mit dem Bein gegen den Mikrofonständer vor sich, der sofort krachend zu Boden fällt. Aus dem Mikrofon, das an den Türrahmen geschleudert wird, dringt nur noch ein letztes, unangenehmes Piepen an seine Ohren, bevor es endgültig den Geist aufgibt. Auch das noch! Dieses scheiß Gerät hat ein Vermögen gekostet! Was ist das heute eigentlich für ein verdammter Scheißtag!?

Die angestauten Emotionen, die Wut auf sich selbst und seine ehemaligen besten Freunde und der Schock über seinen Gefühlsausbruch bringen ihn an den Rand seiner Verzweiflung. Er weiß sich nicht mehr anders zu helfen, als seinen ganzen Frust und Ärger hinaus zu schreien. So laut, dass ihm selbst die Ohren piepsen und seine Stimmbänder anfangen zu schmerzen. Aber all das ist ihm in diesem Moment völlig egal! Es tut einfach nur gut sich endlich einmal den ganzen Schmerz von der Seele zu schreien! Viel zu lange hat er alles in sich hineingefressen und stumm akzeptiert. Immer gehofft, dass sich die Wogen irgendwann wieder glätten werden. Und doch war alles umsonst! Jeder Tag, jede Stunde und jede Minute, in der sie hier gemeinsam ihr ganzes Herzblut investiert haben war umsonst! Für Nichts! Völlig entkräftet sackt Louis auf dem Boden zusammen und starrt gegen die grau gedämmte Wand gegenüber. Nur gut, dass das niemand gehört hat! Und um diese Uhrzeit hält sich sowieso keiner mehr freiwillig im Keller der Schule auf. Seufzend schließt er seine Augen, nur um sie einen Moment später erschrocken wieder aufzureißen.

Ein leises, unsicheres Räuspern dringt von Richtung Tür zu ihm hinüber.  In seinem Emotionsausbruch hatte er offensichtlich gar nicht bemerkt, dass die Tür wieder ein Stück aufgesprungen ist, nachdem sie von Jonas so heftig zugeschlagen wurde. Oh Gott ist das peinlich!  Vorsichtig richtet er seinen Blick in die besagte Ecke des Raumes und schaut direkt in zwei wunderschöne, tiefblaue Augen. Sie strahlen sofort eine so unglaubliche Wärme und Vertrautheit aus, dass er sich direkt wieder wohler in seiner Haut fühlt. Diese Augen kommen ihm so bekannt vor und das, obwohl er das zierliche Mädchen mit den langen hellbraunen Haaren, die ihr in Wellen über die Schultern fallen, hier noch nie zuvor gesehen hat. In seinen Gedanken versunken, bemerkt er erst zu spät, wie sehr er sie doch angestarrt haben muss und senkt beschämt den Blick zu Boden. "Ähm, sorry, dass ich einfach so reinplatze, aber ich habe einen Schrei hier aus dem Raum gehört und die Tür stand offen und ich wollte sicher gehen, dass Niemandem etwas passiert ist! Es tut mir leid, falls ich dich bei ..." "Hey, nein alles gut! Ehm ja der Schrei, eh das war ich.... sorry, falls ich dich erschreckt habe aber mir geht es gut, keine Sorge!"

Wenig überzeugt mustert das Mädchen Louis, dem das Ganze einfach nur unsagbar peinlich ist. "Das glaube ich dir aber jetzt nicht so ganz! Hier sieht es echt wild aus und du sitzt hier wie ein Häufchen Elend...Darf ich reinkommen?" Louis Kopf schreit lauthals 'Nein, darf sie nicht! Ich will einfach alleine sein!' während sein Herz allerdings schon eine ganz andere Entscheidung getroffen hat. Ohne, dass er noch anders hätte reagieren können, nickt er dem Mädchen zu. Diese zögert keine Sekunde und setzt sich neben ihn auf den Boden. "Hey, also ich bin Ella. Und wer bist du, wenn ich fragen darf?". Breit lächelnd blickt sie gespannt in die großen, grün-braunen Augen von Louis. "Sorry, ich bin Louis. Und äh ja eigentlich bin ich nicht so, wie du mich gerade erlebt hast. Tut mir nochmal leid!". "Hey, mach dir deswegen kein Kopf, jeder hat mal solche Phasen, glaub mir!". Grinsend legt Ella ihren Kopf schief und streicht Louis aufmunternd über die Schulter. Ellas Duft dringt in seine Nase und er könnte schwören, dass er ihm bekannt vorkommt. Doch woher nur? "Danke! Aber sag mal, ich hab dich noch nie hier gesehen- bist du neu?" "Ja, meine Mutter und ich sind erst seit ein paar Tagen hier nach Berlin gezogen- lange Geschichte. Aber deshalb durfte ich mich auch hier schon einmal umschauen, damit ich mich morgen einigermaßen zurechtfinde." Komisch, ich hätte schwören können sie schon einmal gesehen zu haben, aber unmöglich, wenn sie nicht aus Berlin kommt....

"Achso, ja das erklärt Einiges! Ich kann dir morgen gerne helfen, falls du den ein oder anderen Raum noch nicht gleich findest." Dankbar nickt ihm Ella zu, aber ihr Blick schweift immer wieder über die Musikinstrumente im Raum. Da kommt Louis plötzlich eine absurde Idee- aber Fragen kostet ja nichts! "Sag mal, du kannst nicht zufällig singen?"

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