Bist du schon wach oder träumst du noch?

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Wir liefen Hand in Hand am Strand entlang. Der Wind wehte das entfernte Kreischen einiger Möwen und den allzu vertrauten Geruch der See zu uns. Die Sonne ging bereits unter und tauchte den Himmel in ein rosa-gelb leuchtendes Farbspektakel. Die Wellen rollten stetig auf den Sand des Strandes auf und erzeugten ein angenehmes Rauschen, das uns in unsere Blase voller Glück einhüllte.

Neben mir lachte sie fröhlich und drehte sich im Kreis. Sie tanzte zu einer Musik, die nur sie zu hören schien. Dennoch spürte ich sie durch meinen Körper rauschen und bekam den Drang, selbst zu tanzen. Doch ich konnte nichts anderes tun, als sie zu beobachten, wie sie mit einem strahlenden Lächeln und zerzausten Haaren vor mir her tanzte. Sie strahlte so viel Glück aus, so viel Frieden. Ich wollte nie wieder etwas anderes tun, als sie anzuschauen, denn es erfüllte mein Herz mit so tiefer Liebe, dass es fast schmerzte.

Ihre Augen leuchteten und ihr Lächeln erhellte die ganze Welt. Ich wollte ihr no sein, sie Berühren, beschützen, nie wieder loslassen. Doch ich stand nur da und beobachtete sie und ich war noch nie glücklicher gewesen.

Auf einmal hielt sie mitten in einer übermütigen Drehung inne. Verwundert starrte ich auf ihren Rücken, während ich das Gefühl hatte, dass die Welt ein kleinen wenig dunkler wurde. War die Sonne schon so weit untergegangen?

Langsam drehte sie sich wieder zu mir um und eine kalte Angst griff nach meinem Herz und erschwerte mir das Atmen, als ich ihren rastlos umherhuschenden Blick erkannte. Es schien, als würde sie nach etwas suchen, dabei gab es hier doch nur uns beide.

Ihr blick huschte weiterhin suchend umher, während sich ihr aussehen veränderte. Ihre makellos glatte Haut wurde blasser, kleine Sorgenfalten erschienen auf ihrer Stirn und um die Augen. Ihre Wangen waren auf einmal eingefallen und unter ihren verheulten Augen lagen dunkle Schatten. Sie wirkte viel schmaler. Sie war nicht mehr schlank, sie war dürr. Ihr glänzendes Haar war auf einmal matt und strähnig, erste graue Strähnen waren in dem wunderschönen Rot zu erkennen. Ihre Haltung war etwas eingefallen, strahlte nicht mehr Freude und Autorität aus.

Sie war immer noch wunderschön. Die schönste Frau auf der ganzen Welt. Doch ihr Anblick erfüllte mich nicht mehr mit purem Glück, sondern mit Angst. Ich konnte ihre Trauer förmlich spüren und wollte nichts lieber tun, als sie in den Arm zu nehmen. Ich wollte ihr sagen, dass alles gut war, ich wollte all ihre Trauer und ihren Schmerz nehmen und ganz weit wegbringen, sodass sie wieder so unbesorgt Lachen konnte, wie sie es vor wenigen Augenblicken noch getan hatte, dieses Lachen, das mein Herz zum Rasen brachte. Doch ich konnte nichts tun, als sie anzusehen und zu spüren, wie mein Herz wieder und wieder brach, mit jeder Sekunde, die ich sie betrachtete.

Nach einer gefühlten Ewigkeit begann sie zu sprechen. Sie musste sich räuspern und ihre Stimme war ganz rau, als hätte sie gerade erst geweint. Ihre Augen huschten immer noch suchen umher, als stünde sie im Dunkeln und könnte nichts sehen. Doch in ihrer Stimme, hinter diesen verzweifelt gesprochenen Worten hörte ich noch etwas anderes. Hoffnung.

"Liebling... Eule bist du da? Hörst du mich?"

Eine Träne kullerte mir über die Wange. Ich hatte gar nicht gemerkt, wie ich angefangen hatte, zu weinen. Nach so langer Zeit wieder diesen Spitznamen aus ihrem Mund zu hören... sie hatte mich immer so genannt, weil ich nachts so lange wach blieb. Wann hatte sie aufgehört, mich so zu nennen? Wann hatte ich sie überhaupt zum letzten Mal sprechen gehört? Seit ich mich erinnern kann, waren wir nur an diesem Strand. Bei Sonnenuntergang, mit dieser unhörbaren Musik und ihrem ausgelassenen Lachen.

Ich brachte keinen Ton heraus.

"Eule, wenn du da bist... Gott, bitte!" ihre Stimme brach, als würde sie gleich wieder anfangen zu weinen. "Wenn du das hier hören kannst... du... es... du liegst seit fast fünf Monaten im Koma. Wir haben eine neue Methode ausprobiert, aber wir wissen nicht, wo oder wie dich diese Nachricht im Traum erreichen wird, aber wir hoffen, sie tut es. Bitte wach auf! Wir vermissen dich so sehr. Ich... ich vermisse dich so unglaublich. Und blad wird unsere Tochter geboren. Bitte komm zu mir... komm zu uns zurück. Ich liebe dich so, so sehr. Mal dreitausend, weißt du noch?" ihre Stimme brach wieder und sie lachte und weinte zugleich. "Bitte, komm einfach nach Hause." Und dann war sie weg.

Sie hatte die ganze Zeit über so geklungen, als würde sie mit einem Gerät reden und nicht mit einem Menschen. Ich stand allein am Strand, der mir jetzt viel zu weit erschien, mit kaltem Wind und tosenden Wellen. Dichte Wolken hatten sich vor der Sonne aufgetürmt.

Verwirrt und verängstigt ließ ich mich auf den hellen Sand sinken und schlang meine Arme um mich selbst.

Koma? Tochter?

Ich musste zurück zu meiner Familie.

Und dann schrie ich. Ich schrie aus voller Kehle, schloss meine Augen und schlug auf den Sand unter mir ein. Ich wollte hier weg, sofort! Tränen kullerten mir die Wangen hinunter und mein Hals tat weh, doch ich schrie, bis ich das Gefühl bekam der Himmel würde auf die Erde hinabstürzen und der Boden unter meinen Füßen weggerissen werden. Und dann verstummte ich.

Um mich herum war alles schwarz und still. Ich habe mich noch nie so verloren gefühlt. Nur schwarze Einsamkeit. Doch dann war da etwas anderes. Aus weiter ferne hörte ich ihre Stimme.

Ganz leise summte sie die Melodie eines alten Schlafliedes. Es war das Lied, dass schon meine Mutter mir vorgesungen hatte, wenn ich als kleines Kind in stürmischen Nächten keinen Schlaf finden konnte.

Und dann konnte ich die ersten Worte verstehen: „Abends zieh'n, die Elche..." Ihre Stimme war brüchig, leise. Ich wollte näher zu ihr, sie deutlicher hören können. Am liebsten würde ich in den Gesang mit einsteigen und mit ihr gemeinsam singen, wie wir es schon so viele Male getan haben.

Ich gab diesem Verlangen nach und folgte ihrer Stimme. Immer weiter, bis ich nicht mehr das Gefühl einer allumfassenden, schwarzen Einsamkeit hatte. Und so fand ich die Kraft meine Augen zu öffnen und dem hellen, weißen Licht entgegenzukommen.

Noch Heute schmecke ich ihre Freudentränen auf meiner Zunge.

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Ein kleiner OS zu einer der Ideen aus dem Buch "Schreibinspiration" von @MitternachtsZauber

I'll come homeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt