Der Zug

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Der blonde Junge sah staunend auf den Zug, der langsam in den Bahnhof einfuhr. "Ist er das?", flüsterte er ehrfürchtig zu seiner Begleitung.

Nachdenklich nickte Vivian mit dem Kopf und griff nach seiner Hand. "Dann wollen wir mal, was, Benny?", lächelte sie ihn dann an.

Mit großen Augen liefen sie auf die sich unter Zischen öffnenden Türen zu. Schon einige Zeit hatte der Junge diesem Moment entgegengefiebert. In den Medien wurde dieser Zug als der Luxuriöseste aller Zeiten beworben, mit mehreren Stockwerken, auf denen das Leben tobte. Es hatte ihn einiges an Überredungskunst gekostet, doch ließ sich Vivian schließlich auf eine Fahrt mit dem Fünf-Sterne-Hotel auf Schienen ein. Noch einmal atmete Benny tief durch, dann stiegen sie ein.

"Die Fahrkarten, bitte", wurden sie von einem elegant gekleideten Schaffner begrüßt. Eilig kramte Vivian ihr Smartphone hervor und hielt es ihm unter die Nase. "Ah, Sie haben Plätze in unserem Familienwaggon. Dann bekommen Sie hier noch ein paar Armbänder." Der Schaffner langte in eine Kiste neben sich und gab Vivian ein weißes Armband. Dann beugte er sich zu Benny runter und überreichte ihm ein Violettes.

Die beiden bedankten sich und liefen zu ihrem Waggon. Während sie liefen, drehte der Junge sich noch einmal schnell um. Erstaunt stellte er fest, dass das Ehepaar nach ihnen keine solche Armbänder bekamen, sondern stattdessen geradewegs auf den Fahrstuhl zugeführt wurden. Doch bevor er sich zu sehr darüber wundern konnte, schlossen sich hinter ihnen die Waggontüren.

"Meine Güte, ist das ein riesiges Ding!", entfuhr es Vivian. Vor ihnen eröffnete sich eine Art Saal mit mehreren Nischen, in denen bereits zahlreiche Familien Platz genommen hatten. "Wie kann denn das sein? Von außen sieht der Zug doch nicht so groß aus."

"Wahrscheinlich hat hier ein Illusionist seine Finger im Spiel", murmelte Benny nachdenklich. Schnell schüttelte er den Kopf und zeigte auf eine leere Nische. "Ich glaube, dort ist unser Platz, oder?"

Zielstrebig liefen sie also dorthin, nur um festzustellen, dass sich bereits ein Paar mit zwei Kindern dort platziert hatte. "Entschuldigung, ich glaube, Sie sitzen auf unseren Plätzen", unterbrach Vivian die Eltern in ihrem angeregten Gespräch.

Schlagartig wandten sie sich den beiden Neuankömmlingen zu. "Oh, verzeihung!", meinte die Frau auf der linken Seite.

Die Frau, die ihr gegenübersaß, sammelte sofort die Sachen auf dem ausladenden Tisch ein. "Wir haben nicht gewusst, dass wir noch Sitznachbarn bekommen."

Vivian bedankte sich und so setzten sie und Benny einander gegenüber auf die Bänke. Seufzend sah die junge Frau zur Seite. "Kein Fenster, Mist."

Da das Pärchen sie verwundert ansah, antwortete Benny schnell: "Meiner Tante wird in Autos und so immer schnell schlecht, deswegen sitzt sie lieber am Fenster."

"Oh, verstehe! Ja, das Familienabteil hat generell keine Fenster", meinte die erste Frau mit einem entschuldigenden Blick zu Vivian.

"Wird schon gehen", winkte sie ab und nahm schnell eine Tablette gegen Reiseübelkeit.

Benny wollte sich gerade seinem Buch widmen, da brüllten plötzlich zwei Kinder durch den ganzen Saal. "Mama, Mami!" Aufgeregt flatterten sie mit den Händen, als sie zu ihrem Tisch gelaufen kamen.

"Lee, Adam, was ist denn?", flötete die zweite Frau.

Die Kinder, ein Junge und ein Mädchen, waren nicht älter als Benny. "Wo sind hier die Toiletten?", fragten sie lautstark.

Daraufhin kramte die Frau einen Plan hervor und breitete ihn in voller Größe auf dem Tisch aus. "Also, wir sind hier", meinte sie und deutete in die untere rechte Ecke. Auch Benny beugte sich etwas vor, um einen genaueren Blick auf den Plan zu erhaschen. Er staunte nicht schlecht, als er Begriffe wie "Bowlingbahn", "Tanzstudio" und "Casino" dort las. Auch ein nicht jugendfreies Etablissement entdeckte er auf der obersten Etage des Zuges.

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