Die Schneeflocken fielen ihm ins Gesicht als er dieselbe Straße wie jeden morgen entlangschlenderte und doch fühlte es sich an, als sei es das erste Mal. Vielleicht war es das auch. Sonst war er die 500 Meter zu seinem Lexus immer die Allee heruntergeeilt mit den Augen auf dem Handybildschirm. Normalerweise würde er jetzt auf dem Weg zu seinem Auto mit einer Hand die ersten Mails des Tages beantworten. Mit der anderen Hand würde er seinen Teebecher halten, den einen oder anderen viel zu heißen Schluck von seinem Assam Tee herunterwürgen, fluchen, weil er sich den Mund verbrannt hatte und dann weiter auf sein Handy starren. Heute nicht. Er hatte zum ersten Mal seit er sich erinnern konnte, keine Mails zu beantworten, keine Termine, keinen Job. Keine Firma.Also nahm er heute zum ersten Mal seit er in dieser Stadt wohnte, seine Umgebung so richtig war. Anscheinend hatte die Gemeinde die kahlen Bäume der Allee mit Lichterketten geschmückt, die eine feierliche Weihnachtsstimmung hervorriefen. Waren die letzte Woche auch schon dort? Er wusste es wirklich nicht. Seine Schritte knarzten ein wenig im Schnee, als er seine Fußabdrücke darin hinterließ und wunderte sich, ob er schon immer dieses Geräusch bei Schnee von sich gegeben hatte. Wie aus Gewohnheit lief er zu seinem Auto und war auch schon fast dort angekommen, als er merkte, dass er eigentlich kein Ziel hatte. Also stieg er ein, legte seine Aktentasche, die er unter seinem Arm gehalten hatte und seinen Teebecher ab und entschied sich dazu, durch die Gegend zu fahren.
Schon eine halbe Stunde war er ziellos durch die Gegend gefahren und merkte, dass er plötzlich vor seinem alten Teeunternehmen stand. Er sah zu, wie die neue Firma gerade einzog an die er sein Unternehmensgebäude mit angrenzender Fabrik verkauft hatte. Eine Kaffeerösterei mit Venezolanischem Kaffee. Es war ein Fairtrade Unternehmen – anscheinend war das heutzutage hip und Menschen waren bereit mehr Geld für das Logo zu zahlen.
Eine Welle der Trauer, Wut und Selbsthass überkam ihm beim Anblick. Er hatte alles verloren wofür er für mehr als die Hälfte seines Lebens gearbeitet hatte. Und all das, weil er so geldgierig gewesen war. Die Profitsucht hatte ihn dazu getrieben, ein Kartell mit anderen Teeunternehmen zu gründen um die Preise für die Tees abzustimmen und mehr Profit zu schlagen. Er hatte gedacht, dass keiner sich genug für Teeunternehmen interessieren würde als dass ein Teekartell auffliegen würde. Wie falsch er nur gelegen hatte.
Nun saß er da in seinem Auto in dem Parkplatz vor seinem ehemaligen Unternehmen und überdachte sein Leben. Er wusste nicht wie lange er da saß, bis er einen Schrei herausließ in den er seinen ganzen Frust und Schmerz der letzten Monate legte. Er musste aus seinem Kopf herauskommen, sonst würde er noch verrückt werden. Also stieg er aus seinem schicken schwarzen Lexus und spazierte durch die Gegend. Er nippte einen Schluck seines Tees und merke in dem Moment wie gut der Tee eigentlich war. Der Tee von seinem Unternehmen, den er jahrelang jeden Morgen getrunken hatte. Jetzt wo er nur noch ein paar Schachteln von diesem Tee übrig hatte, bereute er, dass er sich nie die Zeit genommen hatte, seinen eigenen Tee zu genießen. Der war verdammt gut. Ein großer Seufzer entkam ihm. Es hatte nun keinen Sinn mehr sich zu ärgern über all das, was er verpasst hatte. Also nahm er noch einen Schluck seines Tees und entschied sich dazu, zu lächeln, einfach weil er gut schmeckte. Die Muskeln in seinem Gesicht fühlten sich beim Lächeln komisch und ungewohnt an.Er brauchte eine Ablenkung für die Weihnachtszeit und der Gamestop Laden, den er von der Entfernung sah, war genau das Richtige dafür. Die meisten Personen würden die Weihnachtszeit mit Freunden und Familie verbringen. Doch jahrelang hatte er Tag-ein-Tag-aus gearbeitet und sich kaum einen freien Tag erlaubt. Jedes Weihnachten, jeden Feiertag hatte er gearbeitet, Anfangs – vor 20 Jahren – weil er musste, um sein Teeunternehmen aufzubauen. Doch im Laufe der Jahre tat er es, weil zu Hause keiner auf ihn wartete. Er hatte seit Jahren keinen Kontakt zu seinen Eltern. Diese waren schon als er ein Kind war nie zu Hause, hatten immer gearbeitet und ihn sogar an Weihnachten mit der Haushälterin alleine gelassen. Auch sonst hatte er sich mit 45 Jahren keine eigene Familie aufgebaut. Abgesehen von dem gelegentlichen One-Night-Stand hatte er keinen Lebenspartner und keine Kinder. Seine Freunde hatte er wegen der Firma seit Jahren vernachlässigt und die hatten irgendwann wohl keine Lust mehr auf ihn. Das ständige Arbeiten war ein Weg für ihn, diese klaffende Einsamkeit in seinem Leben zu ignorieren. Doch jetzt ging das nicht mehr.
Er kam aus seinem Gedankenstrom heraus, als er vor dem Gamestop Landen stand und die Glocke über der Tür läutete als er eintrat. Eine ganze Weile sah er sich um, bis er ein Spiel fand, das er ganz ansprechend fand. Und dann kaufte er gleich noch zwei weitere; er hatte ja viel Zeit.
Auf dem Rückweg zu seinem Wagen war auf den Straßen mehr los als davor. Es waren viele Autos unterwegs, die hin und wieder verärgert hupten und Radfahrer, die nicht schauten wohin sie fuhren. Die Ampel an der er gerade stand, leuchtete rot als er vom Winkel seines Blickfeldes ein Kind sah, das auf die Straße lief. Ohne eine Sekunde nachzudenken, ließ er den Teebecher und seine Aktentasche mit den Videospielen fallen. Er ging einige Schritte auf die Straße, packte den Jungen am Arm und zerrte ihn zurück auf den Gehweg.
„Um Himmels willen Jimmy!!“, rief eine blonde Frau mit einem wirren Dutt. Sie bückte sich zu dem Kind herunter und nahm in den Arm.
„Lauf nie wieder einfach so weg, hast du verstanden?!“, sie schrie Jimmy fast an, die Sorge in der Stimme der Mutter war unüberhörbar.
Der Junge schien noch zu sehr geschockt zu sein und nickte nur. Die Mutter blickte auf und sah den Retter des Kindes an.
„Vielen, vielen Dank! Weiß Gott, was Jimmy passiert wäre, wenn Sie nicht gewesen wären. Sie sind ein Engel.“, die Frau schien religiös zu sein, dachte er in diesem Moment.
Er nickte nur, selbst etwas überwältigt von der Situation.
„Wie kann ich Ihnen danken, Herr…?“
„Ich bin Alexander. Und nichts zu danken, das war wohl selbstverständlich“, antwortete er.
„Ich bin Christina.“
Alexander nickte nur wieder.
„Sind Sie über Weihnachten in guter Gesellschaft?“, fragte sie.
Die Frage überrumpelte ihn ein wenig. „Nein, ich bin alleine.“
Er war kurz davor anzufügen, dass er für die Weihnachtszeit Videospiele hatte, aber das hörte sich selbst in seine Ohren erbärmlich an. Also hielt er den Mund.
„Sie sind alleine in der Weihnachtszeit? Wie schrecklich“, merkte sie an.
Wie nett, dass sie ihm Salz in die Wunde reiben musste. Ein nachdenklicher Blick kreuzte ihr Gesicht bis es aufleuchtete. „Kommen Sie zu uns! An unserem Tisch ist immer Platz für einen Gast!“Nun, da saß er zwei Tage später an Heiligabend. Er war nur allzu glücklich über die Einladung. Das letzte Mal hatte er als Kind mit einer Familie Weihnachten gefeiert. Die Eltern eines Schulfreundes hatten damals Mitleid mit ihm gehabt und in eingeladen. Aber jetzt war er hier und er freute sich. Er hatte ihnen zwei Schachteln von seine Lieblingstee aus seiner ehemaligen Firma als Danke mitgebracht. Auf die eindringliche Bitte von Christina hin trug er sogar einen Weihnachtspullover, zum ersten Mal in seinem Leben. Er fühlte sich zunächst lächerlich. Diesen Pullover hatte er extra für den Anlass kaufen müssen. Doch Christinas Mann und Sohn trugen auch einen Weihnachtspullover, der noch lachhafter aussah als sein eigener und da fühlte er sich schon besser.
Das Essen war wunderbar, Jimmy, Christina und ihr Mann waren liebenswerte Menschen, die ihn so herzlich in ihr Haus aufgenommen hatten. Sie aßen, tranken und Jimmy erzählte dumme Witze aus der Schule zu denen Alexander unwillkürlich lachen musste. Nach dem Essen spielten sie gemeinsam Brett- und Kartenspiele und immer wieder musste er im Laufe des Weihnachtsfests herzlich lachen.
An diesem Abend vergaß er alle Gedanken, Sorgen und die Einsamkeit, die ihn sonst so verfolgte. An diesem Abend fühlte er sich… Er wagte es kaum zu denken. Glücklich.Alexander war fast wieder zu Hause angekommen nach diesem magischen Abend. Er war gerade aus seinem geparkten Auto ausgestiegen und schlenderte die 500 Meter von seinem Wagen zu seinem Haus. Die Schneeflocken fielen ihm ins Gesicht. In der einen Hand hielt er einen Teebecher mit Kräutertee, den Christina ihm für den Rückweg aufgebrüht hatte. In der anderen Hand hielt er Plätzchen, die er ebenfalls von der Familie bekommen hatte. Seine Schritte knarzten im Schnee und ein lächeln überkam ihn, als er die Lichterketten in den Bäumen sah, die eine feierliche Weihnachtsstimmung hervorriefen.
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Ein Weihnachten mal anders
Short StoryEin leicht krimineller ehemaliger Geschäftsmann arbeitet zum ersten Mal nicht an Weihnachten. Er weiß nicht, was er tun soll, denn Familie und Freunde hat er nicht. Doch an Weihnachten geschehen bekanntlich Wunder. Dies ist eine vollständige Kurzges...