Schmerz

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Er rannte. Er rannte so schnell wie noch nie im seinem Leben, durch den kleinen Wald nahe ihres Hauses. Alles flog an ihm vorbei, schien unwirklich, verworren ,verschwommen. Selbst als er zwei mal fast hinfiel kümmerte es ihn nicht. Es gab nur einen Gedanken : Sie! Er wollte so schnell wie möglich zu ihr. Ihm war egal, dass seine Hose zerrissen von den Dornensträuchern war, egal dass sein Gesicht zerkrazt war. Unter normalen Umständen hätten ihm die Beine bereits versagt und er wäre heftig schnaufend zusammen gesunken, aber unter diesen Umständen war das etwas anderes. Er lief ohne groß darüber nachzudenken was er tat. Er hatte es von ihrer Mutter erfahren. Sie war vollkommen aufgelöst gewesen als er bei ihrem Haus ankam. Eigentlich war der Tag wie jeder andere gewesen, selbst wenn sie nicht in der Schule gewesen war weil sie krank war. Nun wurde ihm klar, dass damit nicht körperlich krank gemeint gewesen war. Niemand hatte etwas geahnt, weder er, noch ihre beste Freundin, noch ihre Mutter. Als ihre Mutter ihm den Brief gezeigt hatte wusste er warum sie in den letzten Tagen so abwesend war. Sie war geistig schon lange weg und dies war ein Abschiedsbrief. Ihre Mutter reichte ihn ihm unter Tränen. "Liebe Mama, es tut mir Leid. Bitte sei nicht sauer auf mich. Es tut mir im Herzen weh dass ich nicht mit dir darüber reden konnte, glaub mir ich wollte es tun. Aber ich brachte es weder zu Stande meine Gefühle in Worte zu fassen, noch dir frühzeitig Kummer zu bereiten der nicht nötig ist. Nicht wegen mir. Du darfst nicht traurig sein, das war nicht meine Absicht. Aber ich habe den Entschluss gefasst dass ich so nicht weiter leben kann. Mir hat es nie an etwas gefehlt und ich war eigentlich glücklich... dennoch habe ich mich leer gefühlt. Und selbst er konnte daran nicht viel ändern. Ich denke ich bin größenwahnsinnig. Ich brauche etwas das ich hier nicht bekommen kann. Deswegen ändert sich mein Weg jetzt, auch wenn manch einer glauben würde er sei zu Ende. Ich glaube, dass unser Leben auf der Erde erst der Anfang von etwas viel Größerem ist. Das werde ich nun ergründen. Vielleicht sehe ich schon in diesem Moment lächelnd zu dir herab. Ich freue mich schon darauf bis wir uns eines Tages wieder sehen, dennoch solltest du dein Leben weiterhin genießen und nicht zu lange trauern. Bitte vergib mir. In Liebe, deine Tochter. PS.: Ich habe ihn immer geliebt, selbst wenn das in diesem Brief nicht so deutlich wird. Ich liebe euch beide." Er war geschockt,verzweifelt, traurig, verletzt, er fühlte sich leer und dennoch war er voller Emotionen die man nicht halbwegs in Worte ausdrücken konnte. Er wollte einerseits weg von diesem Ort, sich verkriechen, verstecken, andererseits wollte er zu ihr und sie noch einmal sehen. Ihre Augen, die immer dieses besondere Glitzern in sich hatten, ihre haselnussbraunen Haare, die immer perfekt fielen, ihr unglaublich charmantes Lächeln, wegen dem man nie auf sie sauer sein konnte. Er wollte noch einmal ihren Duft einatmen und sie noch einmal in seinen Armen halten... wenigstens wollte er sich von ihr verabschieden. Was er natürlich am besten finden würde wäre wenn er sie davon abhalten könnte. Deswegen rannte er. Wegen dem Fünkchen Hoffnung das immer noch in ihm bestand. Er wusste wo er sie suchen musste. Die Klippe hatte es ihr schon immer angetan. Nach einiger Zeit hatte sich ihre Begeisterung auf ihn übertragen. Mit dieser Klippe verband er viel. Sie hatten dort ihren ersten Kuss an einem wunderbar sonnigem Nachmittag. Er sah sie nicht als einen Abgrund, sondern als einen Fleck an dem sich zwei Menschen ehrlich geliebt hatten, ein Fleck an dem man dem Paradies ein Stückchen näher kommt. Aber das hatte ihr wohl nicht genügt. Er erinnerte sich noch sehr genau an den Tag als sie sich zum ersten mal gesagt hatten dass sie sich liebten. Die Sonne schien auf ihre Haut, die Luft roch salzig, und das Meer schlug unter ihnen an die Felsen. Es war einer der schönsten Tage in seinem Leben. An diesen kleinen Rückblick verlor er nun kaum mehr als ein paar Sekunden. Es erschien ihm unwichtig, in solch einer Situation an so einen Tag zu denken. Dazu hatte er später genug Zeit. Es kam ihm so vor als wäre der Wald plötzlich endlos. Die Stille die er meist genoss, kam ihm nun bedrohlich vor. Mit jedem Schritt wurde sein Kopf leerer und er konnte keinen normalen Gedanken mehr fassen. Nur tief in seinem Unterbewusstsein war ein Satz eingebrannt: "Ich liebe sie". Dieser Satz ließ ihn weiterlaufen bis er schließlich das Ende erreichte an dem der moosige Waldboden in grau-rote Steine überging aus denen die Klippe bestand. Und dort stand sie. Ihm abgewandt, den Blick auf das endlose Meer geheftet. Als sie ihn hörte, wie seine Schuhe bei den langsamen Schritten über die Kiesel knirschten, drehte sie sich langsam um. Er blieb stehen. Er starrte sie an. Versuchte in ihren Augen Gründe zu erblicken, irgendein Gefühl oder etwas anderes das ihn irgendwie trösten konnte. Doch da war nichts. Nur die Abwesenheit die seit Tagen in ihrem Blick herrschte. Ihr Gesicht zeigte keine Regung als sie ihn erblickte, sie hatte damit gerechnet. Hatte sich darauf eingestellt und wusste was sie nun tun würde. Er ging einen Schritt auf sie zu doch sie hob die Hand, als Zeichen dass er stehen bleiben sollte. Er war verzweifelt, er konnte nicht zu ihr, er brachte aber auch kein Wort heraus. Er konnte nichts tun. Musste zusehen wie sie sich wieder umdrehte und die letzten paar Schritte bis zum Klippenrand ging. Er wusste, dass es gleich passieren würde. Sie blickte noch einmal über die Schulter, sah ihm tief in die Augen und sagte drei Worte, wobei ihre Stimme anders klang als die, die er gewohnt war: "Ich liebe dich". Dann wandte sie sich wieder um und ließ sich nach vorne fallen. Es ging ein Ruck durch seinen Körper und plötzlich konnte er sich wieder bewegen. Er eilte auf sie zu, wollte sie zurückhalten, sie auffangen, irgendetwas tun damit sie weiter lebt. Er wäre sogar für sie gestorben. Doch nun wäre ihr das egal. Er schaute über den Klippenrand und sah wie sie sich im Flug umdrehte. Er sah noch ein letztes mal in ihre Augen in denen er so etwas wie Bedauern erkennen konnte, aber der größte Teil ihrer Augen glitzerten vor Vorfreude. Dann war sie schon zu tief gefallen um noch weiter etwas erblicken zu können. Als sie aufs Wasser aufschlug spritzte das Wasser sehr hoch doch sie gab keinen Laut von sich. Dann war sie verschwunden, verschlungen von den Wellen. Und er stand oben, verlassen und unendlich traurig. Seine Füße konnten sein Gewicht nicht länger tragen und er sackte zusammen, das Gesicht gen Himmel gerichtet, das Gesicht verzerrt und der Mund geöffnet zu einem Schmerzensschrei doch kein Geräusch entglitt seiner Kehle.

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