Kapitel 1

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Mit gesenktem Kopf, die große Kapuze tief ins Gesicht gezogen, bahnte ich mir meinen Weg auf dem Markt von Caras Nend. Ein unangenehmer Geruch stieg mir in die Nase als ich an einem Stand mit Fisch vorbei zum Verkaufsstand eines Gemüsehändlers ging. „Was darf ich Euch bringen?" Ich deutete auf einen der wenigen Säcke Kartoffeln und hielt einen Finger meiner behandschuhten Hand nach oben. „Ihr redet wohl nicht sehr viel... ", bemerkte er, während er mir die Kartoffeln reichte. Ich schüttelte nur den Kopf, kramte einen schwarzen Lederbeutel unter meinem Umhang hervor und drückte ihm vier Münzen in die Hand. „Das ist doch viel zu viel!", wies er mich erstaunt hin. „Ein Sack Kartoffeln kostet höchstens zwei Münzen!" „Nehmt es einfach an." Meine Stimme klang nur gedämpft durch den dicken, rauen Stoff meiner Maske. Ich hatte sie mir vor dem Betreten des Marktes in einer Seitenstraße übergestreift hatte und nun mein halbes Gesicht bedeckt. „Ich wünsche Euch noch einen schönen Tag." Aus dem Augenwinkel sah ich noch, wie der Mann etwas durcheinander den Kopf schüttelte, bevor ich wieder in der Menge verschwand.

Immer wieder Leuten ausweichend arbeitete ich mich weiter in Richtung der Gässchen des Schneiderviertels vor, blieb aber noch einmal stehen und beobachtete kurz die Einwohner und den Markt. Heute waren nur zehn kleinere und fünf größere Stände aufgebaut, etwa die Hälfte der gewöhnlichen Anzahl. Vor etwa ein oder zwei Wochen hatte ich unauffällig einem Markthändler gelauscht, der Geschichten von damals erzählt hatte. Leider war ich zu dieser Zeit noch nicht in der Stadt.... Angeblich wurde hier früher blühender Handel getrieben, Schiffe aus dem Osten und Süden legten im Sommer in einem nahegelegenen Hafen an, um hier auf dem Marktplatz ihre Ware zu verkaufen. Damals hatten viele den Namen Caras Nend, was so viel wie „Nasse Stadt" in der alten Sprache der Faron bedeutete, für einen besonders amüsanten Scherz gehalten, doch heute, mitten im September, machte die Stadt ihrem Namen wieder einmal alle Ehre: es schüttete wie aus Eimern. Doch obwohl es regnete, hatte es einige Stadtbewohner, unter anderem auch mich, hinaus auf den Marktplatz gezogen. Für gewöhnlich mied ich die anderen Menschen, was auch auf Gegenseitigkeit beruhte, und mischte mich nur unter sie, wenn ich meine Vorräte auffüllen musste oder um meine Arbeit zu erledigen. Wobei man es nicht als „Arbeit" bezeichnen konnte... ich verdient mein Geld mit der „Rückbeschaffung gestohlener Gegenstände", wie es manche meiner Auftraggeber bezeichnen würden, oder gelegentlich auch als Kopfgeldjägerin. Es war nicht viel, aber ich musste keinen Hunger leiden. Ganz im Grunde war ich mit dem zufrieden, was ich hatte. Einen letzten Blick auf den Markt werfend, drehte ich mich um und lief in die kleine, schwer ersichtliche Seitengasse, die ich schon die ganze Zeit über angesteuert hatte.

Die Gasse war nur wenige Meter lang und endete vor einem halb eingestürzten Gebäude. Mit schnellen Schritten ging ich zur weniger verfallenen Hausseite und stemmte eines der Holzbretter mühsam mit der Schulter zur Seite. Im Inneren des Hauses roch es ekelhaft staubig, modrig und nach halb von Motten zerfressenen Stoffresten. Selbige lagen in der linken Ecke auf einem Tisch und rotteten vor sich hin. Schnurstracks marschierte ich in den hinteren Teil der kleinen Schneiderei. Um nicht an heruntergefallenen Holzbalken hängen zu bleiben wickelte ich den Umhang enger um meinen Körper. Hinter einem gelb-grau karierten Stück Stoff, das früher einmal die beiden Räume getrennt hatte, war eine kleine Kammer. Ursprünglich

Als ich landete knickten meine Beine für einen kurzen Moment unter mir weg, doch ich fing mich schnell wieder und tastete in der Nische an der linken Wand nach meiner Fackel. Mit einem Stück Zunder und einem Feuerstein – ebenfalls aus der Wandvertiefung - erzeugte ich eine Flamme und entzündete die Laterne. Im Fackellicht machte ich einen Schritt in den langen, dunklen Gang, der sich vor mir erstreckte. Unter der Stadt zog sich ein Labyrinth aus steinernen Tunneln entlang. Als ich vor einigen Jahren zum ersten Mal die Gänge erkundet hatte, verirrte ich mich und brauchte mehrere Stunden, um den Ausgang zu finden. Doch mittlerweile fand ich mich zurecht und hatte mir tief im Inneren des „Labyrinths", in einem gut versteckten Raum, ein kleines Zuhause aufgebaut. Um mich nicht zu verirren hatte ich damals in den verschlungenen Runen der Faron ein kurzes Gedicht verfasst und auf die Tunnelwand gemalt:

Dreißig Schritte sollst du gehen, und dich dann nach Westen drehen

Acht und zehn wandre nun, wie es die Völker des Nordens tun

Nach weiteren zwanzig in Richtung Süden darfst du nicht so schnell ermüden

Folge dem schwarzen Fluss sechzig und acht nach Osten, dort kannst du am Ufer rasten.

Sobald ich die Tür hinter mir wieder verriegelt hatte, streifte ich mir die Kapuze und die Maske ab. Es tat gut, frei atmen zu können. Meinen Bauernzopf öffnend, kämmte ich mir mit meinen Fingern durch die feuchten Haarspitzen. Mein Blick wanderte zu dem trüben Spiegel mit Holzrahmen, der mit einem Tuch verhängt war. Ich schaute nicht gerne in den Spiegel. Meistens tat ich es nur, um zu kontrollieren, ob die Kapuze mein Gesicht verdeckte, damit die Bewohner der Stadt mich nicht anstarrten. Man hätte mich vermutlich als hübsch, vielleicht sogar als schön bezeichnen können... hellgrüne, leicht schrägstehende Augen, die einen interessanten Kontrast zu meinen dunklen Haaren bildeten und eine schmale Nase. Am Auffälligsten waren die lange Narbe, die sich von meiner Wange bis kurz über meine Augenbraue zog und die Spitzen meiner Ohren, die jetzt unter meinen Haaren hervorlugten. Als mich zuletzt jemand ohne Maske gesehen hatte, wurde ich als Dämon beleidigt und hatte anschließend ungewollt eine Massenpanik ausgelöst.... Zu meiner Verteidigung: man hatte mir den Stoff vom Gesicht gerissen. Obwohl es vermutlich auch nicht gerade friedlich gewesen war, dass ich den Mann anschließend mit einem Messer gedroht hatte.... Es war nicht richtig gewesen, aber es hatte mich verletzt, dass er mich einen Dämon genannt hatte. Es verletzte mich grundsätzlich, dass die meisten Lebewesen Angst vor mir hatten. Aber ich konnte nichts daran ändern... ich sah aus, wie ich aussah und die Narbe gehörte eben dazu. Zwar hatte ich es schon mit Verschleierungszaubern versucht, aber ich war aus der Übung und konnte sie nicht allzu lange aufrechterhalten.

Den Gurt mit meinen Zwillingsmessern legte ich in eine kleine Holztruhe im hinteren Teil des Zimmers, meinen Umhang hängte ich zum Trocknen auf eine Wäscheleine. In der Mitte des Raumes war eine kleine Feuerstelle. In der Decke über dem Feuerkorb war ein Loch, durch das der Qualm abziehen konnte. Ich wusste nicht wohin dieser Schacht führte und es war mir auch relativ egal, solange man den Rauch nicht entdeckte oder ich daran erstickte. Die beiden Säcke Kartoffeln verstaute ich in einer kleinen Vorratskammer, die an meine Behausung grenzte. Hier war es kühl und trocken, der perfekte Ort, um Lebensmittel zu lagern. Meine Kleidung bewahrte ich hier ebenfalls, in einem großen Jutebeutel gesteckt und an einem Seil von der Decke hängend, auf. Zwischen der rechten Wand und der Feuerstelle spannte sich eine selbstgebaute Hängematte. Ein Bett besaß ich nicht. Ich streifte mir die gefütterten Stiefel von den Füßen, lockerte meinen ledernen Schutzpanzer und zog eine Schriftrolle mit einem Wachssiegel aus der Tasche an meinem Gürtel. Dann setzte ich mich in meine Hängematte und brach das Siegel mit dem darauf eingedrückten Drachen. Irgendwoher kam mir das Symbol bekannt vor, aber ich machte mir nicht weitere Gedanken da rüber sondern fing an zu lesen. Auf dem leicht feuchten Papier stand in einer krakeligen Männerhandschrift geschrieben:

Seid gegrüßt.

Ich habe einen Auftrag für Euch. Ich will, dass Ihr etwas von Mírdan stehlt. Es ist ein Dolch, etwa eine große Hand lang, schwarz wie die tiefste Nacht. Der Dolch ist eine Sonderanfertigung, verliert ihn nicht! Wenn Ihr den Auftrag erledigt habt, kommt dorthin wo das Gerberviertel auf das Fischerviertel trifft. Die Bezahlung beträgt 18 bronzene Münzen.

T.

Ich las mir den Brief mehrmals durch und bei jedem mal wurde ich nervöser. Mírdan war der beste Waffenschmied von ganz Caras Nend. Als ich vor ungefähr acht Jahren auf meine ersten Raubzüge ging, hatte er mich erwischt und mir gedroht, meine Hand abzuhacken falls er mich noch einmal beim Stehlen antreffen sollte. Außerdem war der Treffpunkt am anderen Ende der Stadt, wo sich, wegen dem Gestank von Fisch und totem Tier, kaum jemand freiwillig aufhielt... es könnte eine Falle sein. Im Normalfall würde ich jetzt die Stelle und Umgebung nach möglichen Fluchtwegen absuchen, jedoch ging die Sonne bald unter und es war nicht gerade ungefährlich bei Dunkelheit durch die Gassen zu laufen. Außerdem hatte ich keine Lust meinen halb trockenen Umhang und meine Maske aufzusetzen. Meine Hände zitterten leicht, als ich den Brief wieder zusammenrollte und auf den Deckel der Kiste warf. Ich beugte mich über den Rand der Hängematte, angelte mit den Fingerspitzen eines meiner wenigen Bücher die ich besaß und zog es wieder in mein Bett. Das Lesen brachte mich immer auf andere Gedanken und es half mir mich zu beruhigen. Das Buch auf meinem Schoß hatte einen schlichten schwarzen Umschlag aus Leder, die Papierseiten waren vergilbt und abgegriffen, weil ich es schon so oft gelesen hatte. Im Schein der Feuerstelle schlug ich das Buch auf und begann zu lesen.



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⏰ Letzte Aktualisierung: Feb 10, 2023 ⏰

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