Der schwarze See liegt mitten im Wald. Es gibt keine Lichtung darum, die Bäume reichen direkt ans Ufer. Manche Wurzeln stechen aus der Erde am Rand des Sees hervor, hängen wie knöcherne Finger darüber hinaus, verschwinden schließlich in dem dunklen Wasser. Dieses glitzert in der Sonne wie flüssiger Obsidian. Im Schatten ist der See tiefschwarz. Es ist unmöglich, seinen Grund zu erkennen. Vielleicht gibt es keinen.
Im schwarzen See lebt ein Wesen, von dem viele glauben, dass es nicht existiert. Dieses Wesen hat bleiche Haut, die sich eng über seine Knochen spannt und von Süßwasseralgen durchwachsenes Haar. Die Augen sind bodenlos und dunkel. Selten wagt sich das Wesen an Land. Dann wandelt es ziellos umher und schreit in Zungen zu einer Gottheit, die ihm nicht antwortet, die vielleicht noch weniger existiert als das Wesen selbst.
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Als ich dem Wesen zum ersten Mal begegne, sitze ich auf einer Bank in Ufernähe und schnitze. Das Wesen steigt aus dem Wasser und bei seinem Anblick schaudert es mir. Langsam kommt es auf mich zu. Ich sehe seine Sehnen, die sich beim Gehen unter der ledrigen Haut bewegen, als würde ein geisterhafter Puppenspieler seine Schritte lenken. Der leere Blick des Wesens ist auf meine Messerklinge gerichtet. Wenige Schritte vor mir bleibt es stehen, streckt mir seine dürren Hände entgegen. Ich springe von der Bank auf und renne fort. Nach dieser Begegnung meide ich den See für eine Weile.
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Das nächste Mal begegne ich dem Wesen im Wald. Wieder einmal führe ich mein Messer bei mir.
„Lauf nicht weg,“ sagt es mit einer Stimme, als hätte es Jahrhunderte nicht gesprochen und nur geschrien. „Kannst du mir dein Messer schenken?“
Ich schüttle den Kopf, richte die Spitze auf das Wesen, zeige ihm so, dass es zurückbleiben soll.
Das Wesen hält inne, dann kniet es sich auf den Waldboden. Es wirft seine Haare über den Kopf nach vorne, Wasser und Algen spritzen in alle Richtungen. Mit weiterhin gesenktem Haupt sagt es: „Dann komm her und schneide mir meine Flügel nach.“
Zögernd gehe ich auf das Wesen zu. Auf seinem Rücken erkenne ich zwei wulstige Narben, dort, wo wohl einst Flügel saßen. Darum befinden sich viele oberflächliche Kratzer. Das Wesen umklammert nun mit seinen langen Fingern mein Handgelenk. Seine Haut ist eiskalt und nass. Es bewegt die Hand mit meinem Messer darin auf die Narben zu, doch es trifft sie nicht. Ich führe das Messer über die beiden Wülste und schneide sie auf. Dabei berichtet mir das Wesen, dass es einst ein Engel war, der seine Flügel nicht liebte. Dickes Blut quillt hervor, bevor die Narben sich wieder zu schließen beginnen.
„Danke“, krächtst das Wesen, lässt mich los und verschwindet in Richtung See.
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Nachts schleiche ich mich aus dem Haus um neben dem Wesen am Ufer zu sitzen. Wir betrachten die Sterne im Wasser, während der Nachthimmel nun mehr eine spiegelnde Fläche wird.
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Keiner glaubt mir, dass das Wesen existiert. Es zeigt sich nur, wenn ich alleine bin. Vielleicht ist das gut so.
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Als ich das Wesen zum letzten Mal sehe, erklärt es mir, dass es sich auf den Grund des schwarzen Sees zurückziehen will. Es bietet mir an, mit ihm mit zu kommen. Ich lenhe ab. Dann bittet es mich darum, ihm ein letztes Mal seine Flügle nachzuschneiden, bevor es im undurchsichtigen Wasser verschwindet.
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Jahre später komme ich wieder zu dem schwarzen See. Ich habe meine Tauchausrüstung dabei und will mich auf die Suche nach dem Wesen am Grund machen. Doch als ich in voller Montur in den See steige, merke ich, dass das Wasser mir gerade einmal bis zur Hüfte reicht.
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Das Wesen vom schwarzen See
Short Story"Im schwarzen See lebt ein Wesen, von dem viele glauben, dass es nicht existiert." *** Das Cover ist ein Bild von Pexels und ist von mir mit Phonto und Polish bearbeitet worden. Ich verdiene damit kein Geld und habe es nicht vor.