» Begrüßen Sie mit mir den deutschen Außenminister Alwin Graap! Herzlich Willkommen!«
Bedacht stieg ich auf die Bühne, genoss den Applaus der anderen Teilnehmer und Gäste. Oben angekommen erwartete mich der Präsident der Konferenz, wir schüttelten uns die Hände, ein kurzer und fester Händedruck und er überließ mir mit einem Lächeln die Bühne. Ich wartete kurz bis er Platz genommen hatte. Die Augen der 5000 Anwesenden lagen auf mir und ich wusste, das weitere tausende Teilnehmer gebannt der Live-Übertragung der Eröffnungsplädoyers folgten.
» Vielleicht...« ich machte eine bedeutungsschwangere Pause und nahm langsam das mir bereitgestellte Glas Wasser, trank einen kleinen Schluck, stellte es wieder ab. Dabei sah ich in die Gesichter der Anwesenden. Ich genoss die Stille für einen weiteren Wimpernschlag bevor ich meine Stimme wieder erhob.
» Vielleicht jagte an dieser Stelle vor 100.000 Jahren einer der ersten modernen Menschen in Europa ein Mammut mit einem primitiven Speer. Ob er Erfolg hatte oder nicht, dass kann ich Ihnen nicht sagen und wir werden es auch niemals erfahren. Doch heute, tausende Generationen danach, schaue ich in Ihre Gesichter und ich sehe keinen Unterschied zu unserem entfernten Verwandten aus der Steinzeit.«
Leise ertönte empörtes Gemurmel, das langsam anschwoll. Als sich die Mienen einiger der anwesenden Spitzenpolitiker, Wirtschaftsverbands- und Medienvertreter kurz gekränkt verzogen, wusste ich, dass meine Provokation aufgegangen war. Sich mit einem Steinzeitmenschen vergleichen zu lassen missfiel dieser Elite der Welt gehörig. Und dennoch sah ich in einigen Gesichtern die Neugierde, wie ich meine Rede fortführen würde. Stille kehrte wieder ein.
»Ich sehe keinen großen Unterschied, denn genetisch unterscheiden wir uns nur geringfügig von den Steinzeitmenschen. Unser Urvorfahre würde uns als seine Artgenossen erkennen, auch wenn wir für ihn seltsam unpraktische Kleidung und ihm unbekannte Gegenstände tragen.
Wenn wir uns also genetisch fast nicht weiterentwickelt haben, wieso leben wir nun so viel fortschrittlicher als unsere Vorfahren? Fast frei von Ängsten und Sorgen, sammeln wir nicht mehr unser Essen oder müssen es jagen, heutzutage kommt das Essen schon durch einen Anruf oder wenige Klicks zu uns.«
Einige der Gäste lachten, niemand schien desinteressiert, ein gutes Zeichen.
» Was uns von den ersten modernen Menschen unterscheidet lässt sich leicht in Worte fassen, doch ihre Bedeutung ist kaum fassbar. Der Steinzeitmensch war dieser Erfindung bereits mächtig und doch haben wir ein ganz anderes Verständnis von ihr. Ohne sie könnten wir hier nicht sitzen und uns über den Untergang der uns bekannten Welt streiten.«
Wieder pausierte ich kurz um die Spannung zu heben. Doch was ich ansprach war wahr. Es ging um diese eine Erfindung im Dasein der Menschheit, die alles verändert hatte. Sie bildete den Grundstein für Kultur und Gesellschaft, für fast jede Entwicklung danach.
» Vielleicht haben einige von Ihnen es bereits erraten können, es geht um nichts Geringeres als die Sprache. Nicht eine bestimmte Sprache, sondern Sprache als Werkzeuge des Geistes. Für uns ist die Sprache selbstverständlich, wir setzen sie als Mittel zur Überzeugung ein, doch im Grunde ist die Sprache die bedeutendste Erfindung des Menschens. Nun vielleicht die zweit bedeutendste, doch auf die bedeutendste Errungenschaft der Menschheit müssen sie noch einen kleinen Moment warten. Die Sprache ist ein Allzweckwerkzeug, ja sogar eine Waffe, doch ihre bedeutendste Eigenschaft, der Grund ihrer Entwicklung ist ganz einfach. Die Übermittlung von Information. Egal ob gesprochen, geschrieben oder durch Gesten, immer dient die Sprache der Übermittlung von Wissen. Von einem Individuum zu einem anderen. Sie gibt uns Macht, umso besser wir sie beherrschen. Sie lässt uns oft genug verzweifeln, wenn wir unfähig sind, unserem Gegenüber zu vermitteln, was wir zu sagen haben. Doch wirklich bedeutend wurde die Sprache für den Menschen erst, als er erfand, wie er das gesprochene Wort niederschreiben und aufbewahren konnte.«
Die meisten Zuhörer lauschten gebannt, vielleicht weil sie die Sprache noch nie hinterfragt hatten. Gut, dass ich einige schon jetzt zum Nachdenken gebracht hatte, denn es war der erste Tag einer langen Konferenz. Wer jetzt schon gelangweilt war würde in den Verhandlungen keinen großen Spaß haben.
» Heute ist das Schreiben für viele Menschen alltäglich, nichts Besonderes mehr. Wir chatten, schreiben E-Mails, lesen Zeitungen. Das Schreiben und Lesen findet sich in den meisten Aspekten unseres Lebens wieder. Doch was uns selbstverständlich erscheint, ließ die Welt einst wandeln. Aus einer Menschenart, die in kleinen Gemeinschaften lebte entwickelte sich innerhalb kürzester Zeit die beherrschende Spezies unseres Planeten. Unser Wohlstand und unser Einfluss auf unseren Lebensraum wuchsen, denn Wissen wurde überliefert und geriet nicht durch den Tod des Wissenden in Vergessenheit. Die Menschenheit sammelte dieses Wissen, Generation für Generation, sie mehrte es kontinuierlich. Doch die gesamte Entwicklung der Menschheit krönt sich in der wertvollsten und einflussreichsten Schöpfung des Menschen...«
Ich hatte mich wirklich sehr lange auf diesen Vortrag vorbereitet. Viel recherchiert und tagelang gerätselt, wie ich meine Ziele durchsetzen konnte. Die diesjährige Klimakonferenz unter dem Namen "COP30" fand in Kopenhagen, der dänischen Hauptstadt, statt. Hier trafen Gegensätze aufeinander, die unvereinbar zu sein schienen. In der ersten klimaneutralen Stadt der Welt, die ihr Ziel, im Jahre 2025 Klimaneutralität zu erreichen sogar um fast eineinhalb Jahre unterschritten hatte, verhandelten die größten Umweltsünder der Welt über das Schicksal der Menschheit. Von den Klimazielen aus dem Pariser-Klimaabkommen von 2015 war nicht mehr viel übrig. Zu sehr hatten sich die Nationen dieser Welt, vor allem die Alten und Mächtigen an ihren Wohlstand und ihre Lebensweise geklammert, manchmal sogar gegen den Willen der Bevölkerungen. Die Welt war im Aufbruch, das spürte man. Überall in Europa gingen zehntausende Menschen auf die Straße um gegen die fehlende Generationgerechtigkeit zu kämpfen. Als jüngster Außenminister in der Geschichte hatte mich der Bundeskanzler in die Regierung geholt, um für Veränderung zu sorgen, andere Nationen mitzuziehen. Viel zu viele Leben standen auf dem Spiel. Nicht nur die der Lebenden, auch die, all jener ungeborener Menschen. Auch diesen fühlte ich verpflichtet.
»…Das Internet. Nichts veränderte das Leben von uns Menschen mehr als die Erfindung des Internets. Doch das Spannende, wir stehen erst ganz am Anfang. So viel Potential ist noch ungenutzt. Es gibt so Vieles, was wir mit dem Internet spielend leicht erreichen könnten, wenn wir es richtig nutzen und zusammenarbeiten würden. Nie war es für einen Menschen einfacher, sich Wissen anzueignen. Ein bloßer Klick genügt, um auf fast jegliches Wissen der Menschheit zuzugreifen. Jeder zweite Mensch der Welt verfügt über einen Internetzugang, Tendenz steigend. Das gesamte Wissen der Menschheit könnte also mindestens der Hälfte aller lebenden Menschen zugänglich sein. Das Internet bietet uns so viele Möglichkeiten Gutes zu bewirken und uns als menschliche Gemeinschaft weiterzuentwickeln. Statt diese großartige Erfindung für Cybermobbing, Spionage, Datendiebstahl und Fake-News zu nutzen könnten wir aufklären, informieren und bilden.«
Was ich sprach machte mich wütend. Ich merkte wie eine Ader an meiner Schläfe zu pulsieren begann. Das Internet war eine Erfindung, die die Welt zum Explodieren gebracht hatte. Nie war die Welt vernetzter, nie konnten Informationen in so großen Mengen so schnell übermittelt werden. Wenn man sich überlegt was mit der richtigen Nutzung des Internets erreichbar wäre. Die Möglichkeiten sind grenzenlos. Doch wofür wir das Internet wirklich nutzen stimmte mich immer wieder traurig. Ob die Steinzeitmenschen so etwas auch getan hätten?
» Und wir brauchen diese Aufklärung und Bildung heute umso mehr. Doch alle Erfindungen der Menschheit zusammen, die gesamte Entwicklung, die uns vom Steinzeitmenschen abhebt, ist auch unser größter Schwachpunkt. Wir haben über tausende von Jahren, die der Mensch schon auf der Erde wandelt, so Vieles erreicht. Wir sind aus einer Art unter vielen zu der beherrschenden unseres Planeten geworden. Doch alle Errungenschaften die uns heute das Leben ermöglichen, haben auch einen entscheidenden Nachteil gegenüber dem bescheidenen Leben eines Steinzeitmenschen.« Ich wartete einen kurzen Augenblick und atmete durch.
» Wir sind blind für unsere Umwelt geworden.«
Früher war ich ebenfalls blind für die Natur. Ich spielte als Kind oft draußen im Wald, doch mit der Karriere, Freunden und Hobbies wurde die Zeit, die ich in der Natur verbracht hatte im Laufe der Jahre immer weniger. Wenn ich es heute zeitlich schaffe im Wald zu spazieren und keine außenpolitische Krise mein Ministerium und die Regierung auf Trapp hält, kann selbst ich erkennen, das der Wald sich verändert hat. Der Boden ist im Sommer oft staubtrocken, es grenzt an ein Wunder, dass es in den letzten Jahren in Deutschland fast keine Waldbrände gab. Doch der deutsche Wald stirbt. Nichts Neues, denn trauriger Weise ist dies ein Schauspiel, welches in fast allen europäischen Ländern verfolgt werden kann. Und weit darüber hinaus. Die Nachrichten berichten seit Jahren darüber, die Wissenschaftler warnen und viele Bürger begehren auf, doch ändern tut sich nichts. Es ist aber nicht nur die Pflanzenwelt, die leidet. Auch die Insekten werden immer weniger, die Weltmeere sind überfischt. Die zerbrechlichen Ökosysteme der Erde werden durch die Eingriffe des Menschen immer weiter geschwächt und zerstört. Was uns drohte wenn sie kollabieren, weiß bis heute keiner, doch die Wissenschaftler ahnen Böses. Ich weiss nicht wie lange ich gebraucht habe um zu begreifen, wie gedankenlos und naiv wir Menschen unsere Umwelt, die Natur behandeln. Als ich in meiner Jugend einmal Urlaub in Griechenland machte, brannte unser Hotel durch einen großen Waldbrand ab. Erst die Angst bei der Evakuierung und der Blick aus dem Flugzeug auf das riesige Flammenmeer, und die unendlich anmutenden Rauchschwaden hatten mir die Augen geöffnet. Die Natur verstand keinen Spaß und sie ließ nicht mit sich verhandeln. Nach dieser Erkenntnis hatte ich mich entschlossen, etwas dagegen zu tun, was dazu geführt hatte, das ich nach einem langen Irrweg in die Politik gefunden hatte. Früher habe ich Politiker verachtet, doch heute bin ich selbst einer. Ein ziemlich erfolgreicher dazu, doch im Gegensatz zu vielen Anderen, musste ich dafür meine Prinzipien und Ideale nicht über Bord werfen. Zumindest redete ich mir das noch ein.
» Wir leben in unseren Ansammlungen von Betonbunkern, haben die Natur so gut es geht aus unserem eigenen Lebensraum verdrängt und ausgeschlossen. Aus den Augen aus dem Sinn heißt es so schön. Als wir anfingen die Natur aus unserem Leben zu entfernen, überkam den Menschen der Hochmut. Wir begradigen die Läufe von Flüssen, stauen riesige Seen auf, verwandeln undurchdringliche Wälder in systematisch angelegte Städte. Die Menschheit hat das Gesicht des Planeten verändert. Nachts kann man unsere Städte aus dem Weltraum leuchten sehen. Unsere Fabriken haben die Zusammensetzung unserer Atmosphäre geändert. In den Ozeanen schwimmen Plastikansammlungen so groß wie ganze Länder. Kein Winkel unseres Planeten blieb vom Menschen unberührt. Doch obwohl wir uns oft über die Natur zu stellen scheinen, so großen Einfluss auf sie nehmen, sind wir doch machtlos im Angesicht ihrer Größe. Lassen sie mich Ihnen dazu ein gutes Beispiel geben, es soll uns bewusst machen wir unmittelbar und unausweichlich die Natur uns vernichten kann und wird, wenn wir uns nicht ändern.«
Ich nahm eine Fernbedienung und drückte den Powerknopf. Es brachte mich in mancher Nacht um den Schlaf zu wissen, dass die Menschheit sich das eigene Grab zu schaufeln schien. Wirklich bewusst sind sich dessen aber nur die Wenigsten. Das war das Problem mit dem Klimawandel. Die meisten Menschen sind einfach zu egoistisch oder zu beschäftigt über die Runden zu kommen, um sich ernsthaft mit so fernen und abstrakten Themen wie dem Klima auseinanderzusetzen und manchen fehlte einfach die Bildung. Aber wen trifft bei den Systemen, die auf der Erde herrschen da noch eine Schuld. Der Leistungsdruck der Gesellschaften hatte uns zu so großem Wohlstand geführt, doch er hat die Menschen auch süchtig gemacht. Süchtig nach Reichtum, nach Macht, nach Konsum. Doch nicht, das ich falsch verstanden werde, all diese Dinge sind an sich nicht schlecht, ganz im Gegenteil, sie sind auch Teil der Lösung. Der Wohlstand und Fortschritt gibt uns erst Gelegenheit über Themen wie den Klimawandel nachdenken zu können. Doch was es bräuchte wären mehr Menschen, die über den Tellerrand blicken. Menschen, die ihre Augen öffnen.
Doch meine Redezeit lief langsam ab und ich sollte mein Eröffnungsplädoyer beenden.
» Lassen Sie mich Ihnen die Augen öffnen. Gerade eben habe ich die Temperatur dieses Saals durch das Aufdrehen vorher installierter Heizkörper verändert. In Kürze wird die Temperatur also ansteigen, ähnlich wie es die Wissenschaftler als Folge des menschengemachten Klimawandels vorhersagen. Viele von Ihnen glauben, der Klimawandel existiert vielleicht gar nicht erst, er sei ein natürliches Phänomen oder er würde Sie nicht betreffen. Vom Klimawandel allerdings nicht betroffen zu sein, hieße auch, zu sagen die steigende Temperatur in diesem Raum würde sie, im wahrsten Sinne des Wortes, kalt lassen. Ich wette mit jedem von Ihnen hier, das dies eindeutig nicht der Fall sein wird.«
Ich merkte wie die hunderten, leistungsfähigen Heizaggregate die ich in Absprache mit der Konferenzleitung hatte anbringen lassen ihre volle Wirkung entfalteten. Einige der Anwesenden zogen bereits ihre Sakkos oder Jacken aus, manche tupften sich den Schweiß von der Stirn. Auch ich merkte, wie es langsam unangenehm warm unter meinem Anzug wurde. Doch ich wollte der Demonstration noch etwas mehr Wirkung verleihen und wartete einen Moment. Als auch mir zu heiß wurde und die ersten Gäste sich durch Rufe beschwerten beschloss ich fort zu fahren und ebenso wie die Raumtemperatur noch einmal die Gemüter anzuheizen.
» Wie sie sehen, gibt es hier keinen Menschen, der sich dem Temperaturunterschied widersetzen konnte. Warum also tun wir noch immer so, als würden wir über der Natur stehen? Wir haben lediglich diesen Planeten, einen Lebensraum, den der Mensch erst seit 200.000 Jahren bewohnt. Für uns eine riesige Zeitspanne, doch die ersten Lebewesen, die das Wasser verließen und an Land lebten, existierten bereits vor 550 Millionen Jahren. 2750 Mal länger, als die Menschheit bereits auf der Erde lebt. Das erste Leben entstand wahrscheinlich schon vor 3,6 Milliarden Jahren, ein Zeitraum 18.000 Mal länger als wir diesen Planeten bevölkern. Hören wir endlich auf, zu tun, als sei die Natur unsere Sklavin, eine Ressource, die wir ohne Grenzen, Bedacht und Verstand nutzen können, denn das können wir nicht. Wir haben nur einen Planeten, einen Lebensraum, den wir uns teilen. Niemand hat das Recht diesen Lebensraum für alle zu zerstören, doch nichts anderes tun wir seit Generationen. Wenn wir in diesem Jahr als Weltgemeinschaft erneut scheitern, dann wird uns bedingungslos der Hass und das Unverständnis unserer Nachkommen und die Rache der Natur heimsuchen. Ich frage Sie, wollen Sie zu den Rettern, oder zu den größten Verbrechen der Menschheitsgeschichte zählen, denn nichts anderes sind wir gerade. Wir sind Massenmörder, schuldig am größten Genozid, den die Welt je erblicken wird, wenn wir nicht sofort handeln. Ich schaue Sie an und sehe primitivere Wesen als Steinzeitmenschen, Kreaturen, die ohne jeden Hauch von Umsicht auf ihr eigenes Verderben zusteuern, wenn wir nicht sofort handeln. Haben die Lebewesen auf dieser Welt nicht genug unter unserer Ignoranz und Arroganz gelitten? Sind wir endlich bereit Verantwortung zu übernehmen?«
Mit dem letzten Wort schlug ich mit der geballten Faust auf das Rednerpult und atmete tief durch. Ich hatte es nicht bemerkt, doch ich hatte die Worte zum Ende meiner Rede beinahe geschrien. Dementsprechend außer Atem war ich. Ich fühlte mich wie ein Lehrer der eine Standpauke vor unartigen Kindern gehalten hatte. Einen kurzen Moment war es bis auf mein angestrengtes Schnaufen totenstill, die Blicke der anwesenden Vertreter fast aller Nationen verrieten mir, das niemand so eine Rede erwartet hatte. Dann zerriss ein aufgebrachter Ruf den Raum. Ich weiß nicht mehr, von wem dieser Ruf kam, denn es war der Startschuss zu einem Tumult. Jeder der Zuhörer wollte seinen Senf dazugeben. Die einen machten ihrer Empörung Luft und riefen aufgebracht in den unterschiedlichsten Sprachen durch den Raum, während andere nicht weniger lautstark ihren Zuspruch kundtaten. Einen kurzen Moment erinnerte mich der riesige, vollbesetzte Konferenzsaal im Bella Center Copenhagen mit den fast 5000 geladenen Gästen an einen überdimensionalen Schulhof einer Grundschule. Jeder der Vertreter von Politik, Presse oder Nichtregierungsorganisation plärrte erregt vor sich hin, ohne eine Chance gehört zu werden. Obwohl der dänische Präsident der Klimakonferenz vehement um Ruhe bat, legte sich der Aufruhr nur sehr langsam. Die erhitzten Gemüter schienen noch lange nicht besänftigt. Während der unglaubliche Geräuschpegel der letzten drei Minuten noch wie ein Donner in meinen Ohren nachhalte und ich fürchtete einen Tinnitus davongetragen zu haben, beschloss ich die Bühne zu verlassen. Ich hatte vorerst ohnehin nichts mehr zu sagen, geschweige denn würden weitere Worte hier auf fruchtbaren Boden fallen. Zumindest nicht heute. Als ich angemessenen Schrittes das Podium verließ, begannen einige Vertreter der ENGOs, RINGOs und YOUNGOs, der Vertreter von Umweltorganisationen, Wissenschaftler und Jugendorganisationen wie ich gelernt hatte, überzeugt zu klatschen. Auch viele der europäischen Regierungsgesandten sowie einige der afrikanischen Stellvertreter fielen in den Applaus mit ein. Es war also noch nicht alles verloren. Andere Teilnehmer wiederum verzichteten auf die Respektsbekundung und schauten abgelenkt zu ihren Nachbarn oder brachten ihre Verachtung mit grimmigen, eisigen Blicken zum Ausdruck. Die Fronten schienen schon heute, nach meinem, dem letzten Eröffnungsplädoyer, verhärtet. In den folgenden Minuten langweilte ich mich und ertappte mich beim Gähnen, während der Präsident Mads Hansen die Tagesordnungspunkte und Veranstaltungen der nächsten Tage präsentierte. Endlich beendete er die Hauptversammlung und nach und nach lichteten sich die Reihen. Auch die Temperatur war wieder auf ein angenehmes Niveau zurückgekehrt. Manche Gruppen zogen sich zu internen Beratungen zurück, andere unterhielten sich noch, angeregt von den heutigen Statements, im großen Konferenzsaal. Ich beschloss mein kommendes Meeting mit meinem Verhandlungsteam abzusagen, schickte eine SMS an meine Sekretärin und bestellte meinen Fahrer. Als ich den Saal verließ warteten bereits meine beiden Personenschützer auf mich.
» Guten Abend Herr Minister.«
» Guten Abend, hattet ihr eine schöne Pause?«
» Ja vielen Dank der Nachfrage, wohin geht es als nächstes? Soll ich den Wagen bestellen?«
» Schon geschehen, wir fahren ins Hotel, ich werde mich eine Stunde ausruhen, meine Rede war...« ich seufzte »...anstrengend.«
» Verstanden, wie es scheint, ging es heiß her. Ich empfehle in der gesicherten Garage in den Wagen zu steigen, vor dem Bella Center gibt es massive Proteste und Demonstrationen, auch die Presse ist vor Ort. Es liegt eine erhöhte Gefährdungslage vor.«
Ich bemerkt erst beim Verlassen des Raumes, dass mir immer noch der Schweiß auf der Stirn stand. Meinen beiden Begleitern Paul und Marc wäre es wie immer am liebsten, wenn ich nicht in der Öffentlichkeit präsent wäre. Aber sie wussten ebenfalls, dass man als Politiker die Nähe zum Volk und der Presse braucht. Es ging um Authentizität und Vertrauen, die höchsten Güter eines Politikers und die am häufigsten verratenen Werte eben jener. Meine Beraterin hatte mir ans Herz gelegt, in meiner aktuellen Situation keine Interviews zu geben. Meine Position wäre bei vielen der autoverliebten Deutschen nicht gerade hervorragend. Dabei hatte ich im Grunde gar nichts gegen Autos. Dennoch würde es mich reizen mit der Presse zu sprechen. Zum Glück gab es auch viele Menschen, für die mehr als der PS-starke Bolide zählte. Menschen, die den ernst der Situation erkannt hatten und sich, ihren Kindern und Enkeln eine gute Zukunft bieten wollten. Bei denen stand ich hoch im Kurs, doch leider bildeten sie immer noch bei weitem keine Mehrheit im Volk. Eine erstarkende, breit gefächerte und vor allem vernünftige Minderheit. Ich war kurz davor der Empfehlung meiner Leibwächter nachzukommen, doch ich überlegte es mir anders. Wann hatten wir schon keine erhöhte Gefährdungslage, wenn ich vor einer Menschenmenge sprach. Schließlich hatte ich den Wagen auch schon vor das Bella Center bestellt.
» Nein ich nehme den Hauptausgang. Gerade heute müssen wir Gesicht zeigen, schließlich geht es um die Zukunft der globalen Gesellschaft. Sie haben doch auch Kinder?«
Paul und Marc nickten. Ich lief los, diskret und beinahe unbemerkt begleiteten sie mich, wie zwei unauffällige Schatten, stets im Hintergrund und doch immer bereit einzugreifen. Über die Katakomben führten meine Begleiter mich zum Hauptausgang. Während wir die teils kahlen und unscheinbaren tunnelartigen Gänge durchschritten, begann man Schritt für Schritt den Lärm der protestierenden Menschen vor der Klimakonferenz wahrzunehmen. Aus einem unterschwelligen kaum wahrnehmbaren Summen wurde ein unüberhörbares, gedämpftes Tosen. Als wäre man auf dem Rückweg von der Toilette zur Tanzfläche eines Clubs. Wir gingen ein Treppenhaus hinauf und kamen in eine Eingangshalle. Securitypersonal stand vor den großen Glastüren. Da es aufgrund der Jahreszeit und der nördlichen, geografischen Position Dänemarks im Oktober schon früh abends dunkel war, erkannte man durch die Glastüren kaum, welche Menschenmengen vor den großen Türen warteten. Paul öffnete mir die Tür, gemeinsam traten wir drei ins Freie. Sofort merkte ich, wie kalt es zu dieser Jahreszeit war und ich ärgerte mich, nur ein gefüttertes Sakko und keinen dicken Mantel mitgenommen zu haben. Als die Menschenmenge uns erblickte, begann der Lärm sich noch einmal zu vervielfältigen. Was die Menschen riefen verstand ich nicht, dafür war die Masse einfach zu riesig und zu laut. Die Fläche auf der sich scheinbar ganz Dänemark versammelt hatte, war wohl eigentlich ein Parkplatz. Dort wo die Straße begann trennten schwere Barrikaden und Betonblöcke die Masse von dem fast menschenleeren Raum zwischen der Polizeisperre und dem Bella Center. Im Schutzstreifen, beschützt von Dutzenden, wenn nicht hunderten Polizisten, harrten unzählige Kamerateams und Journalisten eisern in der Kälte aus. Wie ein Rudel Wölfe, das auf Beute wartete. Diese Beute war ich. Das Blitzlicht der Fotoapparate entfachte ein kleines Gewitter. Ich fühlte mich bereit, mich den Wölfen zu stellen und ihnen zu geben, was sie wollten. Langsam ging ich auf die Pressevertreter zu, sah wie sie eilig ihre Mikrofone und Kameras vorbereiteten. Auch die Menschenmasse wurde kaum spürbar leiser, ich fühlte mich wie in einem vollbesetzten Fußballstadion. Einige Reporter und Reporterinnen hielten mir kleine Ohrstecker hin, anders wäre ein Interview bei diesem Lärm kaum zu führen. Ich nahm eines der mir bereitgestellten Headsets und setzte es in mein Ohr. Ich signalisierte meine Bereitschaft und wartete auf die Fragen.
» Guten Abend Herr Minister, was erwarten sie von der diesjährigen Klimakonferenz?«
» Guten Abend, wir haben heute den ersten Tag der Konferenz, deswegen ist es schwierig jetzt schon eine Entwicklung wiederzugeben, aber alles andere als eine Verschärfung der internationalen Maßnahmen gegen den Klimawandel würde eine Niederlage des gesunden Menschenverstandes, der Demokratie und der Wissenschaft darstellen.«
» Ihre Eröffnungsrede war sehr ungewöhnlich, Sie haben klare und unbeschönigte Worte gefunden, die sicherlich nicht allen gefallen haben, denken Sie, ihre Rede könnte einige der Anwesenden verärgert haben?«
» Natürlich wird sie einige der Anwesenden verärgert haben, doch ich bin dafür bekannt, sehr direkt zu sein und ich zähle das zu einer meiner größten Stärken. Ich hoffe natürlich niemanden verärgert zu haben, aber wen der Schutz unserer Umwelt und unseres Lebensstandards verärgert, der sollte über seine Teilnahme hier noch einmal nachdenken.«
» Wen zählen Sie zu den größten Gegnern der Klimakonferenz?« Die Reporterin lächelte, doch die Frage war riskanter, als sie sie mir verkaufen wollte. Ich überlegte kurz, als Außenminister sollte ich keiner Nation noch weiter auf die Füße treten, doch es gab einfach Staaten, die namentlich für das Leugnen und Vorantreiben des Klimawandels standen.
» Wir suchen natürlich Gespräche mit allen Nationen, schließlich sitzen wir im selben Boot, der Erde. Besonders schwierig werden wohl die Verhandlungen mit Saudi Arabien und anderen großen Ölproduzenten, Indien, China und Brasilien. Diese Nationen sind besonders wichtig für einen funktionierenden Klimaschutz oder waren in der Vergangenheit besonders wenig bestrebt die Umwelt zu schützen.«
» Diese Nationen vertreten also einen ganz anderen Kurs als Sie und die deutsche Regierung, glauben Sie man kann auf einen gemeinsamen Nenner kommen?«
» Das ist schwierig zu sagen, aber uns...«
Ich sah ein grelles weißes Licht, dass mein gesamtes Blickfeld überdeckte, bevor ich in eine bodenlose Dunkelheit zu fallen schien.
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Von Kaffee, Kobalt und Kondomen
ActionIn dieser Dystopie kämpft der untypisch junge, deutsche Außenminister Alwin Graap als Hoffnungsträger für die Zukunft der jugendlichen Generationen. Kann er im Sog der Politik seine Ideale und Prinzipien erhalten und seine Ziele gegen Wirtschaftlobb...