Wenn wir an Opfer häuslicher Gewalt denken, sehen wir eine schwache, blasse Frau vor uns, deren Körper von blauen Flecken übersäht ist. Deren Rippen geprellt. Deren Lippe aufgeplatzt ist. Wir sehen eine Frau vor uns, deren Blick leer ist und die sich selbst längst aufgegeben hat. Und wir sehen einen Mann vor uns. Einen Mann, der der Frau körperlich überlegen ist. Der womöglich ein Alkoholproblem hat oder aber nach außen hin den Eindruck eines Saubermanns erweckt. Wir sehen einen Mann mit Aggressionsproblem, der dieser Frau all das angetan hat. Der sie gebrochen hat. Innerlich und äußerlich. Wir sehen einen männlichen Täter und ein weibliches Opfer.
Einerseits haben wir Mitleid mit dieser Frau. Andererseits verachten wir sie aber auch. Uns könnte so etwas nie passieren! Wir sind stärker als sie. Wir würden uns nie so klein machen lassen. Und außerdem: Wieso wehrt sie sich nicht einfach? Sie könnte doch einfach gehen. Ausziehen. Ihren Mann anzeigen. Ein neues Leben anfangen. Das ist doch nicht so schwer!
Und doch ist es das. Es ist enorm schwer. Opfer häuslicher Gewalt haben oft kein Sicherheitsnetz mehr, das sie trägt. Ihre Partner sorgen schon dafür, dass sie sich früher oder später nicht mehr mit Freund*innen treffen, die das Opfer unterstützen könnten. Sei es emotional oder mit anderen Ressourcen. Sie sorgen schon dafür, dass das Verhältnis zu den eigenen Eltern in die Brüche geht. Dass die Bekannten eines Tages kein Verständnis mehr aufbringen für die unzähligen Ausreden. Dass sie womöglich sogar arbeitslos werden und damit vollends in die Abhängigkeit getrieben sind. Oder dass sie ihre Kinder schlicht nicht ohne Vater aufwachsen lassen möchten. Da stecken sie lieber den ein oder anderen Schlag ein, wenn ihre Kinder dafür ein behütetes Zuhause haben. Unglaublich, oder? Wie jemand, dem die Welt so übel mitspielt, gleichzeitig trotzdem immer noch so aufopferungsvoll und selbstlos sein kann. Manchmal ist es aber auch simpler. Manchmal liegt es einfach nur daran, dass da trotz allem immer noch dieser verdammte Glaube in einem steckt. Dieser Glaube daran, dass es eines Tages bestimmt besser wird. Besser werden muss. Dass, wenn ich mich nur genug bemühe, der Täter eines Tages keinen Grund mehr hat, wütend zu sein. Dass dann endlich wieder alles gut wird. So wie am Anfang. Ich liebe ihn doch so. Und er mich auch.
Wenn wir an Opfer häuslicher Gewalt denken, blenden wir all diese Umstände aus. Wir können und wollen nicht wahrhaben, wieso die Opfer Tag für Tag aufs Neue erneut einknicken. Sich mit falschen Versprechungen Tag für Tag aufs Neue einmal mehr dafür entscheiden, noch länger in dieser Hölle zu verweilen.
Und woran wir auch nicht denken, wenn wir an Opfer häuslicher Gewalt denken, ist, dass häusliche Gewalt nicht automatisch körperlicher Natur sein muss. Manchmal ist es eine Mischung aus emotionaler und körperlicher Gewalt. Manchmal ist es tatsächlich auch nur emotionale Gewalt.
Wenn wir an ein Opfer häuslicher Gewalt denken, sehen wir keinen Mann Mitte zwanzig vor uns, der Mitten im Leben steht. Keinen Mann, der gut aussieht, knapp zwei Meter groß ist und nach außen hin einen eher arroganten Eindruck macht. Und wir sehen als Täterin schon gar nicht seine kleinere, jüngere und zierlichere Freundin vor uns. Die ihm Tag für Tag das Leben zur Hölle macht, ohne auch nur einen Finger zu krümmen. Weil es schlicht und ergreifend nicht in unser Weltbild passt. Und doch ist genau das ebenfalls Realität. In diesem Falle die Realität von Enzo und Angelina.
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Dezembertaubheit (Wolkentalchronik Bd. 4)
RomanceEnzo ist jemand, der einen bleibenden Eindruck hinterlässt. Er ist selbstbewusst, taff und loyal. Das ist es zumindest, was er die meisten sehen lässt. Doch hinter seinen Mauern steckt zudem ein zutiefst sensibler Mensch. Ein Mensch, der noch immer...