Es war ein verregneter Spätsommertag und ich saß über meinen Hausaufgaben, als meine Mutter mich in die Küche rief. Seufzend erhob ich mich und schlurfte los. Super! Da war ich gerade in meinen Lern-Flow gekommen und schon wurde dieser wieder unterbrochen. Als ich das Zimmer betrat stieg mir sofort der Duft von frisch gebackenem Schokokuchen und Kaffee in die Nase! „Meine Güte Lou, wie siehst du denn aus? Hast du vergessen, dass heute die neuen Nachbarn vorbeikommen? Und du läufst immer noch in deiner alten Jogginghose und dem komischen Pulli herum. Beeil dich jetzt und mach dich fertig!", teilte mir meine Mama sofort mit. „Der Hoodie ist überhaupt nicht komisch!", murmelnd schlurfte ich wieder nach oben in mein Zimmer. Auf den Besuch hatte ich überhaupt keine Lust. In unserer kleinen Ortschaft ist es nämlich Tradition, dass neue Nachbarn mit einem Grill-/Straßen- oder sogar Dorffest willkommen geheißen werden. Da es aber in letzter Zeit nur noch regnete konnte keine der drei genannten Festigkeiten stattfinden und so hatte unser Traditionskomitee, ja, sowas gab es bei uns wirklich, beschlossen, dass es in Ordnung war, wenn nur unsere Familie die Nachbarn beim Kaffee trinken und einem ausgewogenem Abendessen begrüßte.
Seufzend öffnete ich meinen Kleiderschrank. Sofort fiel mein Blick auf meinen neuen Rock, den mir meine Granny zum Geburtstag geschenkt hatte. Bis jetzt hatte ich noch keine Gelegenheit ihn zu tragen, aber das würde ich sofort ändern. Grinsend zog ich ihn hervor und strich über den roten Stoff. Dazu meine weiße Bluse und eine wunderschöne Silberkette - vollendet war das perfekte Outfit. Meine Haare steckte ich nur seitlich zurück, einen Zopf konnte ich schlecht machen, da ich einen Bob besaß. Noch etwas Make-up und fertig war ich. Schnell spurtete ich die Treppen runter und schlitterte in die Küche. Dort stand auch schon meine Mum und drückte mir Teller und Tassen in die Hand. Natürlich war auch sie perfekt gestylt. Manchmal frage ich mich echt, wie sie das alles gleichzeitig in so kurzer Zeit schafft. Vielleicht war das ja eine Fähigkeit, die man erst erhält, wenn man Mama wird.
Wie dem auch sei, nachdem schließlich auch mein Papa geholfen hatte, war der Tisch Ruck Zuck gedeckt. Keine Sekunde zu früh, denn sogleich klingelte es an der Haustür. Sofort eilte meine Mutter dorthin und öffnete diese überschwänglich. „Herzlich Willkommen! Kommen Sie doch herein! Hatten Sie eine angenehme Anreise? Oh wie unhöflich, wir haben uns ja noch gar nicht vorgestellt. Also: Ich bin Kristin, das ist mein Mann Bertram und unsere Tochter Louise! Ach, was haben wir uns gefreut, endlich mal wieder Nachbarn zu haben!", plapperte sie sofort los. Da hatte sie aber Recht. Fast zwei Wochen lang lief sie mit einem Dauergrinsen im Gesicht herum und erzählte jedem, dass wir neue Nachbarn bekämen. „Hallo! Vielen Dank für die freundliche Begrüßung. Ja, unsere Anreise verlief reibungslos und alles war nach unserem Belieben! Ich heiße Margaret, das hier ist mein Mann Jonathan, unser ältester Sohn Harvey, unser Mittlerer Ben und unsere kleine Isabella. Herzlichen Dank für die Einladung, so freundlich wurden wir tatsächlich noch nie begrüßt", lautete die ebenfalls sehr schnelle Antwort. Ich denke Mum und Margaret, oder Maggie, wie ich sie insgeheim schon nenne, werden gute Freundinnen werden. Bei den Vätern lief das ganze schon anders ab. Mit einem gekonnten Handschlag und dem üblichen Schulterklopfen, raunte mein Dad Jonathan zu: „Bert" „John", lautete die äußerst aufschlussreiche Erwiderung. So lief das also unter Männern.
Während Mama und Maggie schnatternd ins Wohnzimmer schlenderten, gefolgt von Dad und John, blieb ich allein mit den restlichen drei Personen zurück.
Kurz räusperte ich mich, bevor ich mich vorstellte: „Ja, also... hi! Ich bin Lou!". Wirklich sehr einfallsreich, ich weiß.
Verlegen knetete ich meine Hände und wartete auf eine Antwort. Keine Sekunde später quietschte eine hohe Kinderstimme los: „Hiiii! Ich bin Isy! Wie alt bist du? Ich bin nämlich schon 9!". „Ich bin ein kleines bisschen älter als du, schon zwanzig!", lächelte ich. „Ohhhhh, dann bist du nur zwei Jahre jünger als mein Bruder! Der ist nämlich schon 22 Jahre alt." Ich blickte auf und betrachtete die Jungen. Der eine schien etwa 13 - 14 Jahre alt zu sein. Er war relativ normal gebaut, hatte rot-braune Haare, dunkle Augen und unzählige Sommersprossen auf den Wangen. Schräg hinter ihm stand der letzte der Drei. Mit einem undefinierbarem Blick schaute er mir in die Augen. Dann begann er langsam die Hand auszustrecken und trat einen Schritt näher. „Ich heiße Harvey. Nett ist es hier!" Überrascht starrte ich ihn an. Meinte er nun unseren Eingangsbereich oder die Gegend. Zögernd ergriff ich die Hand, schüttelte sie leicht und stammelte: „Äh, ja, schön. Also, dann gehen wir mal ins Wohnzimmer!" Ein dümmliches Kichern von mir gebend schritt ich voraus.
Innerlich gab ich mir eine Ohrfeige nach der anderen, was war das denn bitte gewesen? So verhielt ich mich ja sonst nie und einen schlechten Eindruck wollte ich keinen Falls hinterlassen. Sanft stoß ich die Wohnzimmertür auf und winkte sie mit einer einladenden Geste herein. Sofort verteilten sie sich auf die übrigen Plätze, bis nur noch einer für mich übrig blieb. Zwischen Mum und Dad eingequetscht ließ ich mich nieder und war überraschenderweise gegenüber von Harvey gelandet. Sein Bruder Ben hatte bis jetzt noch kein Wort rausgebracht und es schien auch nicht so, also wollte er ein Gespräch beginnen. Allgemein blickte er ziemlich griesgrämig und mürrisch drein, aber mir sollte das Recht sein. Ich wüsste sowieso nicht, wie man mit pubertierenden Jungs umgeht, geschweige denn was man mit denen redete. So hörte ich eher dem Gespräch von Maggie und meiner Mutter zu, warf sogar ab und zu ein paar Sachen ein.
Schließlich forderte mich meine Mutter auf den Kuchen zu verteilen und Kaffee einzuschenken. Sie selbst holte aus dem Keller Apfelsaft, für Isy und Ben. Ich legte jedem ein Stück auf den Teller. Doch dann fiel mir siedend heiß ein, dass es möglich wäre, dass einer der neuen Nachbarn eine Allergie gegen die im Kuchen enthaltenen Zutaten haben könnte. Schnell fragte ich nach und mir wurde gesagt, dass Isy kein Gluten verträgt. Dadurch konnte sie den Kuchen nicht essen, da er mit Weizenmehl zubereitet war. „Sind Kekse für dich auch in Ordnung? Ich habe sogar Chocolate-Chip-Cookies da!", versuchte ich das kleine Mädchen zu überzeugen. Glücklich grinste sie und quietschte: „Oh ja, Kekse sind super! Verträgst du etwas auch kein Gulten?" Ich musste lachen und antworte: „Nicht Gulten, Gluten! Und nein, ich vertrage es! Aber meine beste Freundin Elly ist dagegen allergisch und deshalb habe ich immer ein paar Süßigkeiten für sie daheim!" Mit großen Augen nickte sie und begann bereits an einem Keks zu knabbern, die ich inzwischen vor sie gestellt habe.
Und so verging der Nachmittag. Die Eltern unterhielten sich, die Kinder antworteten nur auf ein paar Fragen! Der kleine Stundenzeiger auf unserer Uhr rutschte immer weiter nach links, bis er auf sechs Uhr zeigte. Als Dad das bemerkte, sprang er hektisch auf, entschuldigte sich und verschwand in der Küche. John folgte ihm und Maggie und Mom hatten sich in ein Gespräch über allgemein überteuerte Preise vertieft. Gelangweilt lauschte ich ein wenig dem Geschwätz, bis mich ein Räuspern zusammenzucken ließ. Ich blickte auf und Harvey sagte: „Ich müsste mal aufs Klo. Könntest du mir das Badezimmer zeigen?" „Klar, komm mit!", erwiderte ich, stand auf und lief voraus. Die dunkle Holztreppe knarzte als wir ins obere Stockwerk gingen und ich spürte den stetigen Blick seinerseits in meinem Rücken. Harvey folgte mir den Flur entlang, bis ich ihm vor einer großen Holztür zu verstehen gab, dass wir angekommen waren.
Fünf Minuten später erschien der Junge wieder und ich wollte gerade mit ihm den Rückweg antreten, als er mich fragte: „Kann ich mal dein Zimmer sehen?" Völlig perplex starrte ich ihn an. Damit hatte ich nun wirklich nicht gerechnet. Mit einem überraschtem Unterton antwortete ich: „Klar, warum nicht?"
Oh Mann, bin ich eigentlich komplett bescheuert? ‚Warum nicht?', was ist das denn für eine Antwort?! Wir betraten also mein Zimmer und Harvey begann sofort sich aufmerksam umzusehen. Er trat auf meinen Schreibtisch zu, auf dem noch totales Chaos herrschte, und betrachtete meine Bio-Hausaufgaben.
„Ich habe auch den Biologie-Kurs gewählt. Auf meiner alten Schule waren wir ebenfalls so weit, nur haben wir die Themen eher oberflächlich besprochen!", lies er vernehmen. „Wieso gehst du noch zur Schule? Ich dachte du bist 22? Müsstest du nicht längst studieren oder so?", wunderte ich mich. Harvey lachte auf und erwiderte dann mit einem Schmunzeln: „Richtig geraten Sherlock! Aber ich bin ein Jahr später eingeschult worden und ein weiteres Jahr war ich nicht anwesend!" Als er den zweiten Punkt erwähnte, huschte ein Schatten über sein Gesicht. Mir erschien es äußerst unpassend nachzuhaken, warum er ein Schuljahr verpasst hatte und so wechselte ich das Thema: „Hm Hm. Und was hast du so für Hobbys?"
„Ich spiele Klavier und natürlich Fußball! Was ist mit dir? Du siehst mir so aus, als würdest du im tänzerischen Bereich unterwegs sein!", zwinkerte er mir zu. Dass er damit direkt einen wunden Punkt getroffen hatte, konnte er natürlich nicht wissen. Etwas angesäuert pampte ich ihn an: „Nein! Ich bin nicht im tänzerischen Bereich unterwegs! Wenn du's genau wissen willst: Ich mache Musik und schwimme! Genug Informationen?" „Wow, ist ja gut! Komm mal runter! Ich wusste ja nicht, dass du so sensibel reagierst." Er blickte mich an und tatsächlich erkannte ich einen verletzten Ausdruck in seinem Blick. Beschämt senkte ich den Kopf und wollte mich gerade entschuldigen, da rief meine Mum uns zum Essen. Schnell schob sich Harvey an mir vorbei in den Flur und blickte mich noch einmal an. Diesmal schenkte er mir aber noch ein schiefes Lächeln, als wollte er sagen: „Hey, alles gut! Wir können später nochmal reden!" Stumm folgte ich ihm und ließ das Geschehene Revue passieren. Was war nur los mit mir? Normalerweise wurde ich doch sonst nicht derartig aufgebracht, wenn jemand das Tanzen erwähnte. Außerdem war ich mir sicher, dass das bei jemandem anderen nicht passiert wäre.
Irgendetwas hatte dieser neue Nachbarsjunge an sich, was mein ganzes >Ich< aus dem Konzept brachte.
Irgendetwas hatte er an sich, was mich nicht kalt ließ, sondern meine Neugierde weckte.
Jawohl! Ich würde diesen Harvey besser kennenlernen! Fangen wir doch mal damit an, seinen Nachnamen herauszufinden! Dann sehen wir weiter!
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Just One More Dance
RomanceEine Geschichte über ein Mädchen, das ihren Traum, das Ballett, aufgeben musste und nun versucht sich selbst und ihre Bestimmung zu finden. Eine Geschichte über einen Jungen, der rein zufällig auf genau dieses Mädchen trifft und sich einfach nicht m...