Captain Sternenstaubs letzte Mission

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Bis Ethan Tanner acht Jahre alt war, unterlag er der Illusion, seine Familie sei völlig normal. Vermutlich lag es daran, weil seine Eltern so krankhaft gewöhnlich schienen, dass selbst die langweiligsten, normkonformsten Durschnittsmenschen noch in irgendeiner Weise sichtbar waren – und sei es nur durch einen aggressiv blinkenden Anhänger am schlichten Outdoor-Rucksack, um auf dem Arbeitsweg nicht angefahren zu werden.

Ethans Eltern jedoch hatten die erstaunliche Fähigkeit, einfach immer und überall völlig unbeachtet zu bleiben, gerade so, als wären sie gar nicht da. Selbst ihre Namen waren so herkömmlich, dass es nicht einmal wert war, sie an dieser Stelle überhaupt zu erwähnen.
Ethan selbst hatte von alldem nichts bemerkt. Nun, zum einen, weil er erst acht war und sich herzlich wenig darum scherte, dass seiner Familie nur Gleichgültigkeit entgegengebracht wurde – es gab schließlich viel interessantere Dinge mit denen man sich befassen konnte – und zum anderen weil Ethan, ganz der Sohn seiner Eltern, das Beispielhafte Abbild eines Jungen im Grundschulalter war und man ihn, sollte es je zu solch einer Abnormität kommen, im besten Fall für die Rolle des „Ersetzbaren Statistenkindes ohne Text, ohne Namen und ohne sonstige Relevanz" casten könnte. Eigentlich gab es für Ethan keinen Grund, seine Familiendynamik in Frage zu stellen, doch all das änderte sich an einem bedeutungslos erscheinenden Sommertag, den Ethans Familie im Auto verbrachte. Sie waren auf dem Weg zu Tante Suzie, die Ethans Vater bloß als „speziell" beschrieb. Wie speziell sie tatsächlich war, sei hier mal dahingestellt, war auch nicht wirklich relevant, da sie eh nie wieder erwähnt werden würde. Denn Fakt war, Ethan und seine Eltern waren nie bei Tante Suzie angekommen.

Schon den halben Tag hatte Ethan hinten auf der Rückbank des Familienautos gesessen, den vorbeifahrenden Autos zugeguckt, Straßenschilder gezählt oder die Hand aus dem Fenster flattern lassen. Zwischendurch hatte er seinen Soll erfüllt und mit diversen Kombinationen von „Wann sind wir da?" und „Ich muss mal" genervt, doch die Fragerei brachte den Wagen erstaunlicherweise nicht dazu, sich zum Ziel zu teleportieren. Mittlerweile war es Nachmittag und die Luft im Inneren des Autos war stickig. Irgendwo an der Heckscheibe flog ein hirnloses Insekt immer wieder gegen das Fenster und vorne auf dem Beifahrersitz blätterte Ethans Mutter stirnrunzelnd im Straßenatlas. „Die nächste Ausfahrt dürfte unsere sein", merkte sie an und verstaute ihn anschließend im Handschubfach.
„Also sind wir bald da?", fragte Ethan hoffnungsvoll und quetschte seinen Kopf durch die Sitze nach vorn.
„Noch etwa achtzig Meilen", antwortete seine Mutter und Ethan murrte. „Sargent Smithers muss aber Pipi" Mit seinem Arm schlackernd gestikulierte Ethan zu dem arg mitgenommenen Teddybären, der neben ihm auf der Rückbank saß – angeschnallt, so wie es sich gehörte.
„Sargent Smithers ist doch schon groß, da wird er wohl einhalten können, bis wir da sind", steuerte Ethans Vater bei, der im Takt der Radiomusik auf das Lenkrad klopfte.
„Nein, kann er nicht, stimmts Sargent Smithers?" Eine Pause entstand, in der Ethan scheinbar darauf wartete, dass eine Antwort aus dem flauschigen Inneren des Stofftiers kam, doch wie zu erwarten blieb er stumm. Natürlich, könnte man jetzt sagen, er war ja nur ein Kuscheltier. Doch ungeachtet dessen, dass man im Spielzeugladen heutzutage auch sprechende Varianten fand – gruselig - , zu denen der gute Sargent Smithers allerdings nicht gehörte, würde dem Bären mit dem abgekuschelten Hals und dem umfunktionierten Blümchenkleid noch eine Sprechrolle zuteilwerden. Nun, in gewisser Weise zumindest.
Ethan gab das Quengeln auf und steckte die Nase stattdessen in sein Comicheft, das er an diesem Tag bereits zum zweiten Mal las – spaßige Beschäftigungen waren auf langen Autofahrten eher Mangelware. Deshalb wusste er, dass die coole, heroische Hauptfigur, die die galaktische Superkraft von einhundert Sonnen in sich vereinte, seine Freunde, die Spione einer Geheimorganisation, würde retten können. Erst im Band zuvor hatte der Superheld sich mit den Spionen zusammengetan, um gegen größenwahnsinnige Aliens zu kämpfen, die die Erde hatten vernichten wollen. Der Plan der Aliens war vereitelt worden, doch die Spione wurden von den Aliens, die durstig nach Rache waren, entführt und dem Helden oblag es nun, sie zu befreien.
Natürlich klang die Handlung klischeehaft und abgedroschen, aber für Ethan, der sich in einer nicht enden wollenden Alles-mit-Superhelden-ist-total-cool-Phase befand, war das genau die richtige Lektüre.
Allerdings war Ethan jetzt, da er das Ende schon kannte, gelangweilt von der Geschichte und kramte stattdessen Actionfiguren aus dem Rucksack, um seine eigene Version nachzuspielen.
Seine Sammlung, die er ordentlich neben sich auf dem Sitz aufreihte, war ein kunterbunter Mix aus tatsächlichem Merchandise zu der Comicreihe und wahllosem Ramsch, der sich über die Jahre angesammelt hatte. So stand neben der heldenhaften Hauptfigur ein aufziehbarer Roboter, dessen Batterie nach zwei Wochen leer war, eine kleine Puppe, der Ethan Kriegsbemalung verpasst hatte und der in die Jahre gekommene Sargent Smithers, der im Vergleich mit dem Rest gigantisch und trotz seines Kleidchens furchteinflößend wirkte. Dem Heldenteam gegenüber stand ein Plastikritter, dem einst von einem Hund das Bein zerkaut worden war und seitdem nicht mehr stehen konnte. (Da er ihn aber von vorneherein nie gemocht hatte, war Ethan dem Hund nicht böse). Begleitet wurde der Ritter von einem plüschigen Müllabfuhr-Maskottchen in orangener Uniform mit reflektierenden Streifen und einem grünen Marsmenschen, den Ethan mal auf einem Spielplatz im Sand gefunden hatte. Von Wind und Wetter gezeichnet gab das Wesen einen ziemlich guten Schurken ab.
Als Herrscher über den Verlauf der Geschichte, wies Ethan dem Roboter und der Puppe die Rolle der zu rettenden Spione zu. Der Held würde auf dem Rücken des Bären dem Alien-Ritter-Müllmann-Gespann nachjagen, um seine Freunde zu retten, während die Schurken diabolische Pläne schmiedeten, um die Anstrengungen des Helden zu vereiteln...

Obwohl all diese Informationen trivial erscheinen mochten - besonders wo doch ein viel größeres Mysterium erforscht werden wollte – so sei an dieser Stelle versichert, dass die Spielzeugsammlung eines Achtjährigen nicht vollkommen unrelevant war und Berechtigung hatte, an dieser Stelle erwähnt zu werden. Doch die eigentlich spannende Frage, nämlich warum Ethan und seine Familie ihr Ziel nie erreicht hatten, war nicht leicht zu beantworten. Denn Ethans Erinnerungen ab dem Moment, als das Auto den Highway verließ, schienen verworren und zerstückelt und er hatte Probleme, die Puzzleteile richtig zusammenzusetzen. Man könnte sich jetzt diverse hanebüchene Theorien zusammenspinnen, wie es zu diesem Gedächtnisverlust kam, mit Außerirdischen, die Gehirne anzapften, Zeitschleifen oder sonstigem Unfug um sich schmeißen, aber das hier war nicht so eine Geschichte. Keine Aliens, keine Magie und weiß Gott keine Superhelden.

Die Erinnerungsfetzen verwirrten ihn. Er sah Bilder vor seinem geistigen Auge aufblitzen: Eine Straße im Wald, gelbe Fahrbahnmarkierung, zwei Unbekannte, orangene Jacke...

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⏰ Letzte Aktualisierung: Apr 11, 2022 ⏰

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