Der Zölibat

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Sünde. Es waren nie Wein oder Bier, die mir Sorgen bereiteten. Seltsam eigentlich. Was wohl Gott dazu sagen würde? Als ich mein Gelübde ablegte und dem Bischof voller Zuversicht meine Hand reichte dachte ich, ich würde mich kennen. Ich muss mich geirrt haben. Diese Abtei ist bereits seit 16 Jahren mein Heim. Hier leben meine Brüder, hier ist mein Gott, mein Leben. Hopfen und Weinrebe sind unsere Atemluft. In den letzten Jahren erblühte die Abtei durch deren Einnahmen in voller Pracht. Und zur Fastenzeit kommt uns das trüb-dicke Bier zugunsten. Jedoch müssen wir stets einen klaren Geist erhalten. "Alles ist mir erlaubt — aber nicht alles ist nützlich! Alles ist mir erlaubt — aber ich will mich von nichts beherrschen lassen!" (1. Korinther 6,12). Viele Brüder tun sich schwer damit, jedoch ist unser Abt kulant, solange kein Mageninhalt unsere Steinböden ziert. Aber warum nur, wenn es um das Betrinken geht?

Gestern verpackten wir einige Kisten unserer lieblich-süßen Frühlese, die besonders in den anliegenden Städten sehr begehrt ist. Ich helfe bei der Verfrachtung, jedoch zählt der Transport in die Dörfer und Städte nicht zu meinen Pflichten. Das ist die Aufgabe von Bruder Theotolf. Da er in der letzten Woche erkrankte sollte ich nun für ihn einspringen. Ich war sehr aufgeregt, da ich das Kloster niemals jenseits unserer Weinreben hinter mir lasse. Das Wetter war an diesem Tag nicht das beste. Ein grauer Nebeldunst bettete sich in die umliegenden Wälder und verschlang das mittagsfrohe Sonnenlicht. Ich spürte die Kühle Luft an meinen Händen kratzen und machte mich schnell daran, den alten Schotterweg Richtung Dorf zu nehmen.

 Nach einigen Stunden erschütternder Fahrt auf den alten Holzrädern erreichte ich den mir unbekannten Ort. Man verwies mich zuvor an das Gasthaus am Marktplatz. Dort sollte ich mit unserer Frühlese neben dem naheliegenden Brunnen warten. Die Straßen waren kahl und Menschenleer. Einige Bauern pflügten ihre Felder, aber das Leben innerhalb des Dorfes erinnerte mich an unsere Fastenzeit, in der es immer besonders still ist. Mir war ganz unbehaglich und die düstere Atmosphäre ließ mich erzittern. Vielleicht war es auch nur die Kälte. Ich hoffte, dass man mir bald die Kisten abnehmen würde, sodass ich meine Rückreise antreten könnte. Nach wenigen Minuten brach die Sonne durch die Wolkenwand. 

Ein glänzender Lichtstrahl durchdrang den Nebelschleier und führte meine Augen auf das Geschöpf, das mir nun entgegenstand. Etwas entrang sich ihren fein gebogenen Lippen. Etwas über Wein und Geld. Ich hörte nicht richtig hin. Ich sah nur die wellenförmige Bewegung des Mundes, die mich an die sanften, warmen Züge des Ozeans im mediterranen Mittelmeer erinnerte. Dann sah ich das erste mal in diese Augen. Tiefgründig, Lavendelblau und auf mich gerichtet. Als würden sie mir ihre Geschichte offenbaren wollen. Als gewähre man mir Eintritt in die Seele, als öffnete man mir nach einer langen Nacht im peitschenden Schneesturm die Tore zum Gasthaus und setze mich an das wärmende Feuer. Es war das Leben. Es war die Liebe, die ich nun zum ersten Male erfahren sollte. „Möchtest du das Geld nicht haben?" Sprach jemand. Ich starrte sie an und überwand mich aus vollster Kraft, meine Gedanken zu sortieren. Geld. Augen. Wein. Augen. Geld! Wein! Ich streckte verunsichert meine Hand aus. Ängstlich, als könnte das, was vor mir steht bei der kleinsten Berührung zerbrechen. Etwas streifte meine Handfläche und vertraute sich in meine Obhut. Es fühlte sich warm an, obwohl der Gegenstand kalt war. Ich sprach kein Wort und sie war verwirrt. So wie ich. Meine Welt brach zusammen. Ihre nicht. Nach einiger Zeit fasste ich mich, wandte den Blick ab und trug die Weinkisten in das Gasthaus. Man bedankte sich und verließ mich. Für immer. 

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