The girl you want to be

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Laura ist dankbar.
So steht es zumindest in ihrem Bullet Journal. Jeden Tag schreibt sie drei Dinge auf, die sie glücklich und dankbar machen.
Allerdings hatte sie in den letzten zwei Wochen keine Zeit dafür. Überhaupt ist ihr Bullet Journal nicht gerade auf dem neusten Stand. Ihre letzten ordentlichen Einträge stammen aus dem Februar, obwohl draußen mittlerweile die Osterglocken blühen.
Also wird sie den heutigen Tag nutzen, um aufzuholen.
Sie wirft noch einmal einen Blick ins Wohnzimmer ihrer Altbauwohnung-doch Paul ist nicht zurückgekommen. Er ist irgendwo draußen mit den Jungs, hat ihr nicht gesagt, wo. Natürlich könnte sie auf seinem Instagramprofil nachgucken, ob er eine Story hochgeladen hat. Aber Paul lädt nicht oft Storys hoch.
Obwohl Laura weiß, dass er es einfach vergessen hat, ärgert es sie ein wenig. Eigentlich legen sie in ihrer Beziehung viel Wert auf Kommunikation.
Bevor sie ihre Schuhe anzieht, wirft sie trotzdem noch einen Blick auf ihr Smartphone, um zu sehen, ob Nina sich noch gemeldet hat. Hat sie nicht. Eigentlich wollten sie heute Abend zusammen ein Glas Wein trinken und ihren Urlaub in London planen, der nächste Woche ansteht.  Nina muss es vergessen haben, sonst hätte sie sicher abgesagt.
Laura packt ihr Journal, ihre pastellfarbenen Stifte, Feinleiner, einen Müsliriegel und eine wiederbefüllbare Flasche Wasser in ihre Tasche. Im Treppenhaus spürt sie, dass sie Muskelkater von ihrem Workout am Morgen bekommen hat. Irgendwie fühlen ihre Beine sich müde an. Erst als sie auf der Straße steht, fällt ihr auf, wie klar der Himmel ist. Wahrscheinlich wird es einen farbprächtigen Sonnenuntergang geben.
Während sie losläuft, wird ihr bewusst, dass sie keinen richtigenPlan hat-eine für sie ungewohnte Situation. In diesem Teil von Berlin kennt sie sich immer noch nicht besonders gut aus, obwohl Paul und sie nun schon seit ein paar Monaten hier wohnen. Obwohl die Wohnung wirklich wunderschön ist, liegt sie relativ weit außerhalb, weit weg von dem Teil der Stadt, in dem die meisten ihre Freunde wohnen. Anfangs hat Laura das nicht gestört, denn immerhin haben ihre Freunde dafür auch keine Parkettfußböden und Dachterassen. Zumindest nicht so große Dachterassen wie sie.
Laura ist vor fünf Jahren für ein Studium nach Berlin gezogen, dass sie mittlerweile abgebrochen hat. Ihre Karriere auf Social Media-ihr Instagramaccount, ihr YouTube Kanal „TheLauraLife", der Blog, den sie mittlerweile aufgegeben hat (weil sie niemanden kennt, der ernsthaft Blogs ließt)-all das ist seit ihrem  Umzug so schnell gewachsen, dass sie mittlerweile durch Kooperationen mit Unternehmen wirklich gutes Geld macht. Innerhalb weniger Jahre hat sie sich von einer schüchternen, orientierungslosen Studentin zu einer erfolgreichen Unternehmerin und Influencerin entwickelt. Sie lebt ein Leben, von dem sie vor ein paar Jahren noch nicht einmal hätte träumen können.
Nachdem Laura eine Weile ziellos durch die Straßen gelaufen ist, erreicht sie einen Park, in dem sich die Menschen tummeln. Ein ziemlich kleiner Park, eigentlich nur eine bessere Grünfläche-und hoffnungslos überfüllt. Der Geruch nach Zigaretten und Bratwurst füllt die Luft, das Geschrei von Kindern und Gesprächsfetzen in Sprachen, die sie zum Teil gar nicht versteht. Normalerweise fühlt Laura sich auf belebten Plätzen wohl, aber irgendwie wünscht sie sich heute Abend etwas Ruhe.
Mittlerweile geht die Sonne unter, färbt die Wolken rosarot und vergoldet den Horizont. Trotzdem hat Laura schon schönere Sonnenuntergänge gesehen. Zum Beispiel den auf den Malediven, wo Paul und sie Silvester verbracht haben, oder den über New Yorks Skyline letzten Monat, wo sie dort an einem Event teilgenommen hat.
Sie würde trotzdem gerne ein paar Bilder machen, mit der Selbstauslöserfunktion, wenn schon niemand da ist, um sie zu fotografieren. Hier ist es allerdings zu voll. Sie will schon wieder umdrehen, als das Ende der Grünfläche ihre Aufmersamkeit auf sich zieht. An dieser Seite ist der Park durch einen löchrigen, rostigen Maschendrahtzaun von einem verlassenden Grundstück getrennt. Hohes Gras wuchert auf der anderen Seite, knorrige Bäume verdecken ein halb verfallendes, mit Grafitti besprühtes Gebäude. Kein besonders einladender Platz, aber immerhin könnte sie dort Fotos machen, ohne dass ihr Menschen im Weg sind.
Laura klettert durch den Zaun, sorgfältig darauf bedacht, nicht mit ihrem hellen Mantel oder ihren Locken im Zaun hängen zu bleiben. Nachdem sie eine Weile herumprobiert hat, stellt sie fest, dass sie hier kein schönes Foto von sich selbst bekommen wird. Sie hat kein vernünftiges Stativ, und im Hintergrund sieht man immer den hässlichen Zaun. Also versucht sie etwas anderes, schlägt ihr Bullet Journal auf und platziert es im hohen Gras. Sie zieht die Stifte aus ihrer Tasche, pflückt ein paar Blumen, deren Namen sie nicht kennt und die vor einem anderen Hintergrund verdächtig nach Unkraut  aussehen würden, und platziert alles sorgfältig und zugleich spielerisch auf den Seiten. Nur ein paar Versuche braucht sie, um im goldenen Licht des Sonnenuntergangs ein schönes Foto zu bekommen. Begeistert fängt Laura an, es mit dem Filter zu bedecken, mit dem sie alle ihre Bilder bearbeitet, bevor sie sie hochlädt. Das Bild gefällt ihr, obwohl es nicht so richtig zu ihrem Stil passt. Normalerweise hat sie vor allem Bilder von sich selbst. Laura in einem Sommerkleid, Laura vor der Freiheitsstatue, Laura mit einem Sektglas, Laura am Strand, Laura, wie sie Paul küsst. Zögernd schaltet sie ihre mobilen Daten ein und öffnet Instagram, scrollt durch ihre Bildern und versucht zu entscheiden, ob sie das Bild hochladen soll oder nicht. Sie hat ihr Bullet Journal auf ihrem YouTube-Kanal schon öfter ihr gezeigt, auf Instagram allerdings noch nicht. Welche Bildunterschrift könnte sie diesem Beitrag geben?
Eine Mitteilung lenkt sie ab: Paul hat eine Story hochgeladen. Er ist mit seinen Freunden in einer Bar. Laura lächelt ein wenig beim Klang seiner Stimme. Immerhin spricht er zu ihr...zu all seinen Followern, also auch zu ihr, oder?
Nina hat auch eine Story hochgeladen. Sie ist mit Maja, Lizzie, Bea und noch ein paar anderen in einem Sushi-Restaurant. Einen Augenblick lang ist Laura verwirrt. Warum hat Nina sich nicht bei ihr gemeldet? Warum wurde sie nicht eingeladen? Das sind doch auch ihre Freunde.
Sie vergisst das Foto und schreibt Nina direkt eine Nachricht. Freundlich natürlich-sie möchte nicht, das wegen solchen Kleinigkeiten ein Streit ausbricht. Sie ist ja nicht mehr 14.
Dann schaut sie noch einmal Ninas Story an. Sie ist ziemlich sicher, dass das Sushi Fisch enthält. Dabei ist Nina, genau wie sie, Veganerin. Sie haben gemeinsam eine ganze Menge YouTube-Videos zu dem Thema gedreht und haben sogar mal überlegt, ob sie nicht ein Kochbuch schreiben sollten. Aber dann waren sie doch nicht sicher, ob sie dafür genug Wissen haben. Was zumindest bei Nina auch offensichtlich nicht der Fall ist, wenn sie nicht einmal weiß, dass Sushi Fisch enthalten kann. Und dann diese Mengen an Eiscreme, die sie zum Nachtisch isst...sonst achtet sie noch strenger auf ihre Ernährung, als Laura es tut.
Laura kehrt zu ihren eigenen Account zurück und scrollt durch ihre Bilder. Durch ihr Leben in Sepia. Es wäre wirklich Zeit, sich bei ihren Followern zu melden und einen neuen Beitrag hochzuladen. In den vergangenen Wochen hat sie oft Bilder aus ihrem Urlaub auf den Malediven hochgeladen, doch mittlerweile ist ihr Vorrat aufgebraucht. Sie muss neue Bilder machen. Schöne Bilder.
Suchend umrundet sie das verfallende Gebäude und stellt überrascht fest, dass es auf der westlichen Seite eine erhöhte Veranda gibt. Zögernd klettert sie über die wackelige Holztreppe hinauf und blickt über das Gestrüpp hinweg auf den schwindenden Sonnenuntergang.
An der Hauswand gibt es einen Absatz, der genau die richtige Höhe hat, um ihr Smartphone darauf abzustellen. Sie rückt es zurecht, bis man nur noch den Himmel und die rosigen Wolken sieht, nicht mehr den hässlichen Zaun. Dann richtet sie ihre Locken, setzt ein Lächeln auf und beginnt, vor der Kamera zu posen. Die Qualität wird wahrscheinlich nicht so hoch sein, wie sie es sich wünscht, und auch die Lichtverhältnisse sind grenzwertig, aber vielleicht lässt sich da in der Nachbearbeitung noch was machen.
Laura verändert ihre Position und wirft ihre Haare über die Schulter. Sie überlegt gerade, ob ihr nicht etwas Interessanteres einfällt, als ihr Smartphone ein Summen von sich gibt. Sofort tritt sie einen Schritt näher und sieht Ninas Nachricht bereits auf dem Bildschirm.
Sorry Maus, hab ich voll vergessen. Hoffe, du bist nicht sauer.
Nina weicht zurück. Natürlich ist sie nicht sauer. Was ist schon so schlimm daran? Sie hätte die Verabredung sicher auch vergessen, wenn sie mit Paul unterwegs gewesen wäre. Oder ihren anderen Freundinnen. Ihre Welt dreht sich schließlich nicht nur um Nina. Eigentlich braucht sie die auch gar nicht. Sie hat Paul und ist erfolgreich und kann reisen und ist schön. Auf jeden Fall schöner als Nina. Und überhaupt hat Laura schon länger das Gefühl, dass Nina sich verändert hat, wie ihr auf einmal bewusst wird. Vielleicht ist es an der Zeit, sich von ihr zu distanzieren.
Obwohl, vielleicht hat auch sie selbst sich verändert. Sie spricht auf ihren Kanäen längst nicht mehr nur über Kleidung und Essen und Reisen, sondern auch über wirklich wichtige Themen. Über Nachhaltigkeit zum Beispiel, und wie man im Alltag Plastik sparen kann. Darüber, wie man seine Ziele erreicht. Sie hat sogar überlegt, ob sie in einem Video über die Essstörung sprechen soll, die sie als Teenager hatte.
Sie weicht noch einen Schritt zurück.
Und verliert den Boden unter den Füßen.
Das  dichte Gras fängt sie sanft auf, als sie vom nicht umzäunten Rand der Veranda stürzt.
Falls sie verletzt ist, spürt sie es nicht. Der Fall hat jeden Gedanken aus ihr herausgepresst.  Sie ist so reglos, dass sie nicht mal mehr selbst atmet. Die Luft strömt von selbst in ihre Lungen ein, und aus.
Ein, und aus.
Über ihr wird der Himmel dunkler, die Wolken verlieren ihren rosigen Glanz und werden stahlgrau. Die Grashalme hüllen sie ein und nehmen sie bereitwillig auf. Die Geräusche des Parks ertönen nur noch aus weiter Ferne.
Sie liegt, als hätte ihr ganzes Leben keinen anderen Sinn und kein anderes Ziel, als zu liegen. Hier, zwischen Himmel und Erde.
Vielleicht hätte sie noch länger gelegen, doch es wird kühl, und die Kälte steigt unbarmherzig in ihre Knochen auf. Zögernd versucht sie, ob sie ihre Arme und Beine bewegen kann. Sie kann. Sie versucht, aufzustehen. Es gelingt ihr.
Mit unsicheren Schritten, aber ohne zu stolpern, kehrt sie zum Zaun zurück. Der Park ist inzwischen leerer geworden, und niemand beachtet sie. Als sie ihr Haus erreicht, ist es dunkel, und sie ist froh, dass Paul wieder zu Hause ist und ihr die Tür öffnet. So froh, dass sie die Arme um ihn schlingt und ihn küsst, bevor er ein Wort sagen kann.
„Alles ok?", fragt er überrumpelt.
„Alles ok.", antwortet sie und schiebt sich an ihm vorbei in die Wohnung.
„Du hast ein paar Kletten im Haar.", sagt Paul hinter ihr. „Hast du auf dem Boden gelegen oder so?"
Laura antwortet nicht. Sie ist plötzlich hungrig und macht sich auf den Weg in die Küche.
Paul folgt ihr. „Ist dir etwas passiert? Warum hast du nicht angerufen?"
„Ich...ich habe mein Handy verloren.", sagt Laura.
„Wirklich?", fragt Paul. „Wie ist das denn passiert?"
Laura bleibt still. Sie steht am Fenster und blickt hinaus. Ihre Gestalt spiegelt sich in der dunklen Scheibe, doch der Blick ihrer Augen bleibt unergründlich.
„Laura, wo bist du gewesen?", will Paul wissen.
„Ach.", sagte Laura. „Nirgends eigentlich."

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