Bis die Sonne untergeht, lehne ich an dem Tor. Dann ist mir schließlich so kalt, dass ich wieder zurück in das Anwesen trete. Sobald die Tür ins Schloss fällt, legt sich wieder dieses bedrückende Gefühl über mich, wie eine Decke aus Pech.
Lysander sitzt auf einer Bank in der Nähe des Raumes, in dem Océanne sich grade befindet. Ich lasse mich so weit weg wie möglich neben ihn sinken und lehne meinen Kopf gegen die Tapete. Das Gemurmel wird ab und zu von seltsamen Gesängen unterbrochen und ich lehne meinen Kopf gegen die Wand. Das schummrige Licht und die Wärme des Feuers lässt mich wegdämmern.
Ein Schrei, der durch die Tür dringt, lässt mich aufschrecken. Ich kann nicht sagen, wie spät es ist, doch es fühlt sich an, als hätte ich nicht lange vor mich hingedämmert. Der Laut ebbt ab und ich schaue zu Lysander.
„Hinterfrag es einfach nicht.", flüstert er und ich blinzele.
Ich möchte mir gar nicht vorstellen, was dort grade mit Océanne passiert. Dieser Ort ist wie eine verdammte Folterkammer aus dem Mittelalter mit diesen langen, schwarzen Gängen und den Kitteln der Menschen. Wie viel Cliché möchte Fontaine denn noch bedienen? Er kam mir immer schon vor wie ein Mann der Symbole.
Wieder lehne ich meinen Kopf zurück und starre an die Decke. Lange versuche ich mich darauf zu konzentrieren, nicht einzuschlafen, doch irgendwann passiert es einfach. Ich sinke gegen Lysanders Schulter, doch mein Widerwillen wird von meiner Müdigkeit verdrängt und auch er lässt es einfach zu. Wie schon die Nacht zuvor schlafe ich traumlos aber unruhig durch, bis er mich schließlich sanft wachrüttelt.
„Es ist bald vorbei.", flüstert er und ich nicke benommen.
Es dauert eine Weile, bis ich alles realisiere und das schwere Gefühl auf meinen Schultern spüre. Schnell richte ich mich auf und rutsche wieder ein Stück von ihm weg. Bevor ich mich entschuldigen kann, wird schon die Tür aufgestoßen und Fontaine kommt auf den Gang.
Lysander und ich stehe auf und ich kann sehen, dass Océanne ihm folgt. Ich erstarre, als ich die dunkle, verkrustete Flüssigkeit in ihren Haaren erkenne und das Blut an ihrem Nacken.
Tiefe Ringe liegen unter ihren Augen und ihre Tränensäcke sind geschwollen. Am liebsten wäre ich zu ihr gerannt und hätte sie in meine Arme genommen, doch ihr Vater hat sich bei ihr eingehackt und zieht sie mit sich in Richtung Ausgang. Ihre Haltung ist gebeugt und jeder Schritt scheint ihr Kraft zu kosten. Sie bricht auf der Hälfte des Weges zusammen, doch Fontaine hält sie fest. Ihr ganzer Körper zittert und die schwarze Robe schleift über den Boden.
Es tut mir seelisch weg, zuzusehen, was diese Menschen mit ihr machen. Ich werfe Lysander einen hilfesuchenden Blick zu, doch er hat die Lippen zusammengepresst und blickt auf den Boden. Am liebsten würde ich ihm für diese Feigheit in den Magen boxen!
Schnell eile ich Océanne und ihrem Vater hinterher und halte den beiden die Tür nach draußen auf. Das schwarzes Auto ist bereits vorgefahren und ich helfe Océanne hinein. Ihr Vater steigt neben ihr ein. Lysander öffnet die Tür für mich und ich lasse mich auf den Beifahrersitz sinken. Als er einsteigt und den Zündschlüssel umdreht, kann ich den Motor unter meinen Füßen surren spüren.
Am liebsten hätte ich mich zu Océannes umgedreht, doch ich spüre Fontaines Blick im Nacken.
Eine Gänsehaut hat sich auf meinen Armen ausgebreitet und ich fühle mich wie ein Schaf, das von einem Wolf in die Ecke gedrängt wird. Ein Wolf, das ist dieser Mann, mit seinem starren Blick und den zielstrebigen Bewegungen, die man niemals einschätzen kann.
Ich hebe meinen Blick und schaue aus dem Fenster. Die alten Häuser scheinen an uns vorbeizufliegen. Das Arbeiterviertel in Riga mit seinen Fabriken und Arbeitern wacht auf und die Sonne lässt die Fenster schimmern.
Die ganze Fahrt lang ist alles still, dann halten wir schließlich an. Ich folge den Anderen aus dem Auto und noch bevor ich ihr ins Haus folgen kann, bleibt Fontaine vor mir stehen. Ich muss mir einen Ruck geben, zu ihm aufzusehen, doch dann stelle ich fest, dass er Lysander hinter mir anschaut.
„Packt eure Sachen, wir fahren in einer halben Stunde zum Bahnhof."
Sein Blick streift mich kurz, dann verschwindet er über die Haupttreppe ins Haus. Ein seltsames Gefühl lastet auf meinen Schultern. Ich wünschte, ich müsste diesem Mann nie wieder in die Augen schauen. Ich zucke zusammen, als sich plötzlich eine Hand auf meine Schulter legt.
„Alles ist gut.", höre ich Lysander hinter mir sagen.
Er schiebt mich ein Stück in Richtung Dienstboten Eingang, doch ich bleibe trotzig stehen.
„Alles ist gut? Alles ist gut?! Weißt du überhaupt, was sie mit Océanne da drinnen gemacht haben? Sie war voller Blut, Lysander!"
Seine Augen sind vor Schreck geweitet und tritt zurück. Dann legt er einen Finger auf seine Lippen. Wütend stampfe ich auf, doch senke meine Stimme:
„Du kannst mir nicht verkaufen, dass alles gut sein soll! Gar nichts ist hier gut, diese Familie ist nicht normal."
„Lia.", sagt er so leise, dass ich es kaum verstehen kann. „Du... du kannst das nicht so laut sagen. Wenn sie dich hören..."
Er zögert und schaut sich um. Erst jetzt kann ich erkennen, wie sehr die Adern auf seiner Stirn hervortreten und dass ein paar Äderchen in seinen Augen geplatzt sind. Hinter ihm geht ein junges Paar den Weg entlang. Sie trägt ein goldenes Kleid und er hat seine Hand um ihre Taille gelegt. Die beiden sehen aus, als hätten sie eine lange Nacht hinter sich. Lysander sieht den beiden kurz nach und schiebt mich dann zum Dienstboteneingang. Kurz bevor wir das Haus betreten sagt er erneut:
„Du kannst das niemandem sagen. Versprich mir, dass du nicht versuchst, etwas dagegen zu unternehmen. Fontaine ist mächtiger, als du glaubst."
Ich schüttele meinen Kopf und presse meine Lippen zusammen. Dann sehe ich ihm wieder in die Augen.
„Warum hat er mich mitgenommen?"
„Ich kenne die Antworten auf deine Fragen nicht, Lia."
Für ein paar Sekunden führen wir ein Blickduell, dann dreht er sich um und verschwindet im Haus. Jetzt, wo er weg ist, fühlen sich meine Beine wie Schmelzkäse an. Ich lasse mich auf die Stufen sinken und vergrabe meinen Kopf in den Armen. Mein Herz kann ich in meinem Kopf pochen hören und ich spüre Panik in mir aufkommen. Ich bin ein gefangenes Schaf.
Ich kenne die Antworten auf deine Fragen nicht, Lia, hallen Lysanders Worte in meinem Kopf nach.
Es tut mir so leid, Lia. Es tut mir so unendlich leid, nun ist es Océannes Stimme. Dann die von meinem Bruder, die Akademie hat sich dieses Massaker ausgedacht, damit wir die Organisation auslöschen und ihnen so die volle Macht über uns geben. Ich erinnere mich an seinen Glauben an diese Göttin, die alles kontrollieren soll.
War das heute eine Opfergabe, die die Sekte für diese Göttin veranstaltet hat? Wessen Blut war dabei geflossen? Ich versuche die Puzzleteile in meinem Kopf zusammenzufügen, doch je mehr ich es versuche, desto mehr verschwimmt es vor meinem inneren Auge.

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Zeitenwandler
FantasyRiga 1924 - die junge Zeitenwandlerin Lia wird von ihrer Akademie zur Erforschung der Zeit auf eine Mission geschickt. Sie soll andere Zeitenwandler vor einer fanatischen Sekte beschützen und dafür den Leiter dieser Organisation ausspieonieren. Schn...