Ich starrte gebannt auf das unscheinbare Licht, das von der Flamme der Kerze ausging. Es wirkte so lebendig an diesem todgeweihten Ort, an dem ich mir jegliches Lächeln verkniff. Für einen kurzen Augenblick spürte ich die Nähe meines Vaters, als wäre er vom Himmel herabgestiegen und hätte seine Arme schützend um mich gelegt. So, wie er es früher getan hatte.
Reflexartig schaute ich auf mein Handgelenk. Ich zuckte zusammen. Für den Hauch einer Sekunde hatte ich verdrängt, dass die Ferien begonnen hatten. Ein ungewohntes Gefühl, nicht durch die Stadt hetzen zu müssen, um das Lehrzimmer der städtischen Schule vor dem Lehrer zu erreichen. Die ersten Sonnenstrahlen drückten allmählich durch die Wolken und warfen ihre Schatten auf dicke Marmorplatten.
Ich schlurfte zu dem Gedenkstein, auf dem der Name meines Vaters eingraviert war, und legte meine Hand darauf. Sein strahlendes Lächeln erschien vor meinem inneren Auge und drängte mich zu Tränen. Es zwickte jedes Mal in der Magengegend, wenn ich mir die Namen auf dem Gedenkstein durchlas.
EGEDIUS HAMMER
ALOIS GRÜNSTEIN
PERDI ROSENMeine Gedanken verloren sich in der wuchernden Hecke, welche den Bereich, in dem ich mich aufhielt, abgrenzte. Ich begriff nicht, warum mein Vater uns verlassen musste. Er hatte den Kampf mit ein paar Mito-Huntern verloren und dies mit seinem Leben bezahlt. Die Mörder hingegen entkamen und wurden nie gefasst. Schreiner hätte ich werden sollen, eines Tages den Betrieb meines Vaters übernehmen. Nun hing meine Zukunft in den Seilen. Wir mussten die angemietete Werkstatt aufgeben, um unser Überleben zu sichern.
Ich schritt auf die Hecke zu und linste zu den Grabsteinen, die sich dahinter aufreihten. Für einen Moment wünschte ich mir, dass mein Vater dort begraben wäre. Dann hätte ich immerhin Gewissheit. Denn seine Leiche blieb wie die Mörder verschwunden. Ich spürte den Wind in meinen Haaren, der sanft durch die ausgedörrten Zweige der mächtigen Birke wehte, die mitten auf dem schlammigen Erdweg wie ein Wächter über dem Gedenkstein thronte.
„Hast du nachher noch etwas vor?" Meine Mutter riss mich aus den Gedanken. Ich hatte für einen Wimpernschlag verdrängt, dass sie mich nie alleine an diesen Ort ließ.
„Ich treffe mich mit Sillos", antwortete ich kurz und knapp. Mein bester Freund hatte mir in der schwierigsten Phase meines Lebens neuen Mut geschenkt und mich aufgemuntert, wenn ich nicht mehr weiterwusste. Wie oft lag ich heimlich von Tränen geflutet in meinem Bett und wahrte Stärke, um meine Mutter zu schützen. Sillos hingegen konnte ich meine wahren Gefühle offenbaren.„Dein Vater wäre stolz auf dich". Ich hörte ihre Worte, doch hatte kein Bedürfnis, darauf einzugehen. Gedankenverloren verfolgte ich die Wolken, die am Himmel ihre Bahnen zogen. Meine Finger waren eiskalt, wie abgestorben, obwohl es zu dieser frühen Stunde recht mild war.
„Hast du gehört? Dein Vater wäre echt stolz auf dich", wiederholte meine Mutter und legte ihren Arm um meine Schulter, um meine Aufmerksamkeit zu gewinnen.
„Was habe ich bisher erreicht?"
„Du bist ein starker junger Mann geworden".
„Ich hoffe es", murmelte ich, doch Zweifel drängten sich auf. Mein Vater war in dem Glauben gestorben, dass ich in seine Fußstapfen treten würde. Ob es ihm gefiel, wenn er nun vom Himmel aus verfolgte, wie ich meine eigenen Wege bestritt?Die raue Fläche des Gedenksteins rieb an meiner Hand. Ich begutachtete das kleine Mitoni, das in der oberen Ecke eingraviert war. Die kleinen Wesen schenkten den Trauernden in den schwersten Zeiten ein Zeichen der Hoffnung. Sie waren das Wahrzeichen der Stadt geworden, nachdem sie vor Jahren über Nacht im Königreich aufgetaucht waren. Dennoch bewahrte mich diese Gravur nicht vor feuchten Augen.
„Mein Vater hat einen Krieg überlebt, aber nicht den Angriff von ein paar Verbrechern".
„Er hat sich schon immer für die Schwachen eingesetzt. Wollte die Mitoni beschützen".
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Die Wesen der Macht
FantasyEin Jahr nach dem Tod meines Vaters erhielt ich ein zweites Leben. Ein Kroja fegte wie ein Wirbelsturm durch die Stadt und tötete zahlreiche Menschen. Es stand direkt vor mir, hätte mich mit Leichtigkeit zerquetschen können. Doch es verschonte mich...