Leseprobe 2 (Ausschnitt aus Kapitel 1)

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Das erste was ich sah war die Sonne. Dann wurde mir langsam bewusst, das sich ganz oben auf einer Klippe stand, mit einer gigantischen Aussicht, unter dem wolkenlosen, blauen Himmel. Ich sah mich um. Die Felsen auf denen ich stand bildeten eine Art Ring um das Wasser, am unteren Rand lag ein Hafen und am anderen Ende befand sich ein Engpass zwischen den Klippen. Dieser schien aufs offene Meer zu führen, aber ich konnte nicht viel von hier erkennen. Ich drehte mich einmal um mich selbst. Tatsächlich, ich war mitten auf dem Meer, doch irgendetwas an diesem Ort war seltsam. Warum befand sich mitten auf dem Meer ein Hafen, eingekesselt von Felsen? Und wie kam man dorthin? Nach ein paar Metern laufen fand ich eine in den Stein eingelassene Treppe, die tatsächlich nach unten führte. Unten angekommen blieb mir erst mal der Atem weg. Von hier unten sah alles noch viel gigantischer aus, die meterhohen Klippen, die Schiffe, die an dem Steg lagen, der Engpass – alles. Dieser Ort war wunderschön, aber gleichzeitig fühlte ich mich hier extrem unwohl, die ganze Zeit hatte ich dieses seltsame Gefühl in der Magengegend das mir normalerweise sagte, dass etwas nicht stimmte. Ich fühlte mich beobachtet, als wäre ich hier nicht alleine. War hier jemand? Ich drehte mich um und sah eine Art Hütte, weiß, klein, irgendwie mediterran, gleichzeitig etwas unheimlich. Ich beschloss, nicht hineinzugehen und mir stattdessen den Hafen weiter anzusehen. Irgendeine Präsenz war hier, und früher oder später musste sie sich wohl zeigen. Ich war schließlich eine Seherin –oder sahen nicht mal wir Seher alles? Vor allem, was tat ich hier und wie war ich hier hergekommen? Und welcher Idiot errichtete mitten auf dem Meer einen Hafen, der von Klippen eingekesselt war? Die Schiffe sahen alt aus, hauptsächlich waren es Segelschiffe, die nicht sehr modern wirkten. Ganz am Rand stand eines, bei dem die Segel kaputt waren, es war schon marode und erinnerte mich stark an ein Geisterschiff. Das Wasser unter mir war völlig klar, ich konnte sogar die kleinen Fische sehen, die herumschwammen. Wenigstens etwas lebendiges hier. Ich lief weiter den Steg entlang, kurz vor dem Engpass befanden sich ein paar Sandbänke. Der Sand war fein und hell, fast wie an einem karibischen Strand. Und dann fiel mir etwas auf. Das Wasser stand nahezu still. Normalerweise kräuselte sich die Oberfläche immer ein wenig aufgrund des Windes –und jetzt merkte ich es. Hier war kein Wind, nicht mal ein kleiner Luftzug. Weder oben auf der Klippe, noch hier unten. Ich lief wieder in Richtung Hütte. Hier stimmte etwas ganz und gar nicht, und langsam fingen sogar die Fische an, mir Angst zu machen. Entweder bildete ich es mir nur ein – oder dieser Schwarm schwamm mir tatsächlich hinterher und verfolgte mich mit jedem Schritt. Verdammt, wo war ich hier? Plötzlich, von einer Sekunde auf die andere, verdunkelte der Himmel sich und ich sah etwas aus dem Wasser emporsteigen...


Ich wachte auf. Und wusste erst mal nicht, wo ich war. Ich hob die Hände, bewegte jeden einzelnen Finger – okay, ich war schon mal nicht gestorben. Dann realisierte ich, dass ich in meinem Zimmer war und das Ganze nur geträumt hatte. Was war das gewesen? Ich träumte öfters, und manchmal auch ziemlich krankes Zeug. Aber dieser Traum war anders gewesen, es hatte sich so real angefühlt, fast wie eine Art Vision.Ich tippte eher auf einen sehr realen Traum, schließlich waren Visionen eher so ein Lichtseher-Ding, wir „normalen" hatten so etwas nicht, oder zumindest wurde nie darüber geredet. Ich stand auf, zog mich an, ging in die Küche – und realisierte, dass ich verschlafen hatte. Meine Eltern waren schon auf der Arbeit und wir hatten, wie sich nach einer kleinen Tour durch den Vorratsschrank herausstellte kein Frühstück mehr im Haus. Na super, also musste ich jetzt wohl zum Bäcker.


Als ich an der Bäckerei ankam traf ich Roman, er war ungefähr dreiJahre älter als ich und ich kannte ihn aus der Theater AG. Außerdem war er gut mit einem meiner älteren Brüder befreundet. Wir hatten nicht wirklich Kontakt, aber da er oft bei uns gewesen war kannte ich ihn recht gut. Sogar seine Handynummer hatte ich noch eingespeichert, da ich meine Kontaktliste gefühlt nie aussortierte.

Wenn man Roman in einem Wort beschreiben sollte, dann würden Alternativ, seltsam oder auch Hippie ganz gut passen. Die hellbraunen Haare hatte er seit Jahren nicht mehr geschnitten und seine Outfits sahen manchmal aus, als hätte er den Altkleidercontainer geplündert. Heute trug er eine sehr weite Jeans und ein grünes Sweatshirt, das war noch ziemlich normal für seine Verhältnisse. Aber Roman war, anders als sein Modegeschmack, echt in Ordnung. Wir setzten uns an einen Tisch und bestellten Frühstück, aus irgendeinem mir nicht ersichtlichen Grund wollte er unbedingt reden, bloß keine Ahnung über was. Aber wenn er so dringend reden wollte, von mir aus, ich hatte ja Zeit.

„Also", begann er, während er seinen Teller vor sich abstellte. „Ich weiß nicht, ob das nicht zu plötzlich kommt, aber ich glaube ich bin auch ein Seher."

„Was? Wer hat dir erzählt – also, wie?" Ich war völlig perplex. Woher wusste er überhaupt, dass ich eine von ihnen war?

„Ich hab ein paar Entdeckungen gemacht. Dann habe ich mich bisschen drüber informiert, und ich glaube mittlerweile, ich bin auch ein Seher." Ich nahm einen großen Schluck Kaffee, um meine Fassung wieder zu gewinnen.

„Das nenn ich mal eine Ansage", antwortete ich beeindruckt. „Aber wie kommst du überhaupt darauf, dass du in der Lage bist, Kreaturen wahrzunehmen, die normale Menschen nicht sehen können? Und welche Art Entdeckungen meinst du?"

Er schaute sich prüfend im Raum um und beugte sich dann ein wenig vor.

„Ich sehe Geister, schon seit ein paar Jahren. Manchmal, wenn ich nachts die Straße lang laufe sehe ich da irgendwelche durchsichtigen Menschen stehen, manchmal schweben sie, manchmal sitzt da so ein Mädchen auf dem Dach. Und wenn ich ihr winke ..." Er schien sich selbst nicht ganz zu glauben. Aber mehr, weil es ihn schockierte, er sah jetzt nicht aus, als würde er lügen. „Sie winkt zurück, verstehst du? Früher dachte ich, ich hätte einfach zu viel getrunken oder bin high oder bilde es mir einfach ein, aber selbst wenn ich völlig nüchtern bin sehe ich sie! Ich dachte ... na ja, vielleicht kannst du mir weiterhelfen?"

„Vielleicht, mal sehen", meinte ich.

„Also glaubst du mir?" Ich zögerte. Tat ich das? Sollte ich Roman,dem jenigen, der immer die seltsamsten Geschichten auf Lager hatte und definitiv einen kleinen Dachschaden hatte, glauben? Irgendwas sagtemir, dass er mich eben nicht anlog. Außerdem war er an sich ein ehrlicher Mensch.

„Ja," antwortete ich langsam. „Ich glaube dir. Weil ich weiß, wie es ist, wenn einem keiner glaubt."

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⏰ Letzte Aktualisierung: May 25, 2022 ⏰

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Vision: Ich kann dich sehen (Leseprobe)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt