1. Kapitel

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«Nora, kommst du?»
«Ja gleich», rief ich meiner besten Freundin zu und las noch schnell die letzten Sätze des Kapitels fertig. Dann stand ich auf und beeilte mich, zu Zoe zu gelangen. Unterwegs warf ich noch einen prüfenden Blick in den Spiegel. Mir sah ein 18-jähriges Mädchen mit schulterlangen braunen Haaren, dichten Wimpern und rundlichem Gesicht entgegen. Unter meinem linken Auge befand sich ein kleines Muttermal, was mich störte, doch wenn man das Gesamtbild betrachtete, sah ich eigentlich ganz hübsch aus.
«Du siehst super aus, jetzt komm», bestätigte mir genau in diesem Moment Zoe, die ungeduldig in der Tür wartete.

Zoe und ich kannten uns schon seit der Grundschule und waren seither unzertrennlich. Gerade befanden wir uns in unserem Zimmer an der Universität in Los Angeles. Es war zwar nicht sehr gross und doch hatten wir es uns ganz gemütlich eingerichtet. Die Wände hatten wir mit Fotos von uns vollgeklebt, auf den Tischen standen unsere Laptops und darüber hingen Lichterketten mit Polaroids. Auf dem Brett über dem Tisch hatte ich Bücher deponiert, während Zoe dort ein eingerahmtes Bild, welches sie und ihren Freund zeigte und einige kleine Kakteen hinstellte. Ein Teil des Schrankes, der eigentlich für die Kleidung gedacht war, hatten wir in ein Bücher-regal umfunktioniert, da wir sonst nirgendwo Platz für unsere vielen Bücher fanden. Neben dem Wohnzimmer gab es noch eine kleine Garderobe beim Eingang und ein kleines Bad.
Mit diesem gemeinsamen Zimmer war ein Traum von uns in Erfüllung gegangen. Schon als kleine Kinder sagten wir, dass wir einmal an derselben Uni studieren wollten. Als wir tat-sächlich auch an der gleichen Uni angenommen wurden, war die Freude darüber natürlich gross.

Zusammen liefen wir in Richtung Mensa, um zu Frühstücken. Es war unser erstes Jahr an der Uni, weshalb wir bereits eine Woche vor Semesterbeginn angereist waren. So konnten wir den Campus schon ein wenig besser kennen lernen. Es war nämlich gar nicht so einfach, sich hier zurecht zu finden. In den ersten zwei Tagen verliefen wir uns ständig, trotz der Hilfe des Campusplans. Neben Literatur konnte man hier noch viele andere Sachen studieren, wie das beispielsweise Zoes Freund Adrian tat, der hier sein Sportstudium absolvierte. Apropos Adrian, der sass bereits mit Luke und Julian am Frühstückstisch. Die beiden anderen Jungs hatten wir gleich an unserem ersten Tag hier kennengelernt. Wir hatten uns hoffnungslos verlaufen und sie waren so nett uns den Weg zu zeigen.
Adrian war ein Jahr älter als wir, doch hielt sich oft, Zoe zuliebe, bei uns auf. Zoe und ich holten uns unser Frühstück und setzen uns zu den andern.

«Ey habt ihr die crazy Nachricht schon gehört?», fragte uns Luke, bevor wir auch nur mit einem guten Morgen anfangen konnten. Luke wusste Neuigkeiten oft schon bevor diese offiziell bekannt waren, weshalb Zoe und ich ihn jetzt auch gespannt anschauten.
Also erzählte er weiter: «Samantha Johnson kommt zu uns an die Uni. Ist das nicht der Wahnsinn!?»
Er schaute uns begeistert an und auch Julian und Ardian schienen von dieser Neuigkeit angetan.
«Samantha Johnson? Die Tochter der Präsidentschaftskandidatin?», fragte Zoe freudig.
Ich war da eher skeptisch. Eigentlich war sie ganz okay. Sie wäre die erste weibliche Präsidentin von Amerika. Und da sich Amerika im Thema Gleichberechtigung relativ schwertat, fände ich das echt toll. Auch ihre politischen Ansichten teilte ich weitgehendst. Jedoch schien sie mir viel zu perfekt zu sein. Genauso wie ihre Kinder. Zwillinge, perfektes Aussehen und wohlerzogen. Die Tochter hatte ausserdem einen genauso perfekten Freund; der Sohn eines Berühmten Lacrosse Spielers. Auch er geht auf unsere Uni und besucht einige Kurse mit Adrian. Laut ihm ist er ziemlich arrogant und unsympathisch, hat aber dennoch haufenweise Freunde.
Und naja, mein Gefühlt sagte mir, dass niemand so perfekt sein konnte, wie sie es vorgaben zu sein. Generell verstand ich nicht ganz was jetzt daran so toll war, schliesslich waren schon einige berühmte Personen an dieser Schule. Zugegeben, die meisten von ihnen wurden erst nach ihrem Abschluss berühmt. Aber das Spielt doch keine Rolle.
«Hey Nora, freust du dich denn gar nicht darüber?» fragte mich Julian, da man mir meine Gleichgültigkeit wohl ansah. Deshalb meinte ich einfach: «Ich finde es nur nicht so aufregend», und zuckte mit den Schultern.
Julian, der sich laut Zoe auf den ersten Blick in mich verliebt hatte, meinte daraufhin schnell: «Hmm ja eigentlich hast du recht. Ist echt nichts speziell.»
Ich rollte mit den Augen. Es war ja schön, dass er mich mochte, doch übertreiben musste er auch nicht. Da fing ich den bedeutungsvollen Blick von Zoe auf, der so viel heissen sollte wie: jetzt geh doch endlich einmal auf ein Date mit ihm. Ich rollte nur nochmals mit den Augen. Wir kannten uns schliesslich erst eine knappe Woche. Und auch wenn er eigentlich ganz nett war, konnte ich mir einfach nicht mehr als Freundschaft vorstellen. Doch als ich das Zoe sagte meinte sie nur, dass sage ich bei jedem Typen und es würde sich nach ein paar Dates schon noch ändern. Trotzdem weigerte ich mich standhaft gegen die Dates, die Zoe für mich organisieren wollte. Was aber wahrscheinlich auch daran lag, dass mein erstes Date so schrecklich schieflief.
Zoe hatte damals ein Tinder Profil für mich erstellt und ich war so dumm, es auch damit zu versuchen. Auf jeden Fall hatte ich dort einen Typen kennengelernt, mit dem es dann tatsächlich auch zu einem Treffen kam. Wir wollten eigentlich nur den Nachmittag zusammen verbringen um uns besser kennen zu lernen, was wir Anfangs auch machten. Doch als es dann Abend wurde meinte er, er hätte noch eine Idee, was wir machen könnten. Diese sich jedoch kurz darauf, als eine Party eines Freundes von ihm herausstellte. Ich mochte Partys zwar schon damals nicht, doch ich dachte mir, ich könnte ja einmal vorbeischauen. Tja schwerer Fehler. Denn obwohl er mir versicherte, dass sich in dem Getränk, das er mir anbot, kein Alkohol befand, war ich schon nach wenigen Gläsern betrunken. Er versuchte daraufhin diesen Zustand auszunutzen und begann damit mir immer wieder Küsse auf die Lippen zu drücken. Als er mich dann auch noch versuchte meine Brüste zu betasten, wurde es mir zu viel und ich rannte davon. Ich rief Zoe an, die mich abholen kommen musste. Seither war ich weder auf einer Party noch auf einem Date gewesen, da ich sowas nie wieder erleben wollte. Damit ich nicht weiter darüber nachdenken konnte, hörte ich wieder Julian zu der immer noch darüber redete, wie langweilig die Tochter der Präsidentin eigentlich war.

An diesem Nachmittag liefen wir über den Campus in Richtung Bus Station, um in die Stadt zu fahren. Dort wollten wir noch kurz in ein Einkaufscenter, um ein paar Sachen für die Vorlesungen zu kaufen. Doch bevor wir den Campus überhaupt verlassen hatten, stiessen wir auf einen Menschenhaufen, der aufgeregt vor dem Parkplatz stand.
«Was ist denn hier los?» fragte mich Zoe.
Da ich genauso ratlos war wie sie, zuckte ich nur mit den Schultern. Da antwortete auch schon ein Mädchen in unserer Nähe, die anscheinend zugehört hatte: «Samantha Johnson ist gerade angekommen. Ihr wisst schon, die Tochter der Präsidentschaftskandidatin.»
Klar wussten wir wer Samantha war. Gefühlt ganz Amerika kannte ihren Namen. Doch das Mädchen wusste anscheinend noch mehr von Samantha, denn sie ratterte gerade Fakten herunter die eigentlich keinen Menschen interessierten.
«Sie hat am 18. Dezember Geburtstag, hat einen Zwillingsbruder der auch dann Geburtstag hat. Naja, irgendwie logisch nicht.» Sie lachte über ihren eigenen Witz. «Beide sind in den Beverly Hills geboren und dann mit 11 Jahren nach Los Angeles gezogen. Spannend, nicht?»
Sie erzählte noch weiter aus Samanthas Leben, doch ich hörte ihr bereits nicht mehr zu. Stattdessen stellte ich mich auf eine kleine Mauer, um über die Leute hinwegsehen zu können. Auf dem Parkplatz stand, wie ich jetzt erkennen konnte, eine schwarze Limousine, aus der soeben Samantha ausstieg. Sie war schlank, blond und wie es mir schien ein wenig bleich. Doch dies lag wahrscheinlich an der vielen Schminke, die ihr Gesicht bedeckte. Was aber eigentlich nicht negativ war, denn sie sah umwerfend aus. Ihre Haare fielen in leichten Wellen über ihren Rücken und sie hatte ein perfektes rundes Gesicht mit vollen Lippen. Ich konnte mein Blick kaum von ihr wen-den. Sie lächelte und winkte in die vielen, auf sie gerichteten Kameras. Da streiften sich für einen kurzen Moment unsere Blicke. Und auch wenn es nicht mehr als eine Sekunde gewesen war, in der wir uns direkt in die Augen sahen, fühlte es sich wie eine halbe Ewigkeit an. Der Blick, dieser kristall-blauen Augen, liess ein Kribbeln in mir auslösen und als dann ihr Freund zu ihr lief und ihr einen Kuss auf den Mund drückte, wünschte ich mir, es wäre ich gewesen.
Oh Gott. Ich schüttelte den Kopf, um aus meinen Tagträumen zu erwachen. Und was um Himmels Willen stellte ich mir da eigentlich gerade vor! Heute Morgen hatte ich mich noch über die Familie Johnson aufgeregt und jetzt stellte ich mir vor, wie es wäre mit Samantha zusammen zu sein. Zudem war sie noch ein Mädchen! Ich hatte zwar nichts gegen Beziehung zwischen zwei Frauen und doch wollte ich keine. Schliesslich war ich heterosexuell. Auch wenn ich mir da nicht mehr so sicher war, wenn ich mir Samantha ansah.
Also drehte ich mich schnell um und sagte zu meinen Freunden: «Wir sollten gehen, sonst verpassen wir unseren Bus.»
Zoe folgte mir auch gleich, doch die beiden Jungs kamen nur widerwillig. Luke hatte leicht gerötete Wangen und meinte: «Samantha sieht aber schon unglaublich gut aus»
Ich nickte, doch als ich realisierte was ich da tat, verdrehte ich schnell die Augen, schaute ihn genervt an und lief mit Zoe voran. Hinter mir hörte ich Luke noch weiter mit Julian über Samantha schwärmen.

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