Donner. Wenige Sekunden später auch Tropfen. Kurz darauf prasselte schon starker Regen herab. Wasser kam in Unmengen auf die Erde gespült und wischte jedes Zeichen einer aufrichtigen Nacht davon. Dunkle Wolken bedeckten den Himmel und ließen dem Mond keine Möglichkeit, ein Zuversicht spendendes Licht vom Himmel herab zu reflektieren. Straßen füllten sich mit Wasser und Wege quollen auf. Auch ein zweites Element, der Wind, leistete seinen Sold, indem er mit seinen langen und weit reichenden Armen den Regen auch in die geschütztesten und entlegensten Orte beförderte und so manche Planke davon riss. Hätte dieses Unwetter an irgendeinem anderen Ort stattgefunden, so würden sich die dortigen Bewohner wahrscheinlich tagelang über diese Unannehmlichkeit auslassen, doch hier in dieser Stadt, war das gewöhnlich.
Heute, der 28.11.1711. Frankreich. Dieppe. Ostturm der Burg.
Nässe war das erste, was Gervaise wahrnahm, als er durch ein, die Stille durchschneidendes Geräusch geweckt wurde. Das war nicht unüblich, zwar war das Gemäuer nicht undicht, oder es konnte reinregnen, aber wenn man wie er in solch einer Familie lebte, war Nässe das eine, was man nicht mehr aus dem Sinn bekam. Ungewöhnlich jedoch war, dass man zu dieser Zeit noch etwas auf den Gängen hören konnte, ganz zu Schweigen davon, direkt an seiner Kammer. Seine Familie besaß einige Haushunde und unter den Giebeln des über ihm liegenden Daches nistete seit letztem Jahr ein Falke, doch das Geräusch war definitiv nicht solcher Quelle zuzuordnen. Noch etwas benommen drehte er langsam den Kopf. Im selben Augenblick bemerkte er einen Schemen, welcher sich entlang seiner nun geöffneten Tür bewegte. Es handelte sich um eine mittelgroße und vermummte Gestalt, die ganz in Schwarz gekleidet war. Es blieb ihm nicht viel Zeit, sich der Situation bewusst zu werden, als der Eindringling nach ein paar anpirschenden Schritten schon auf ihn sprang. Noch eben in einen leichten Schlaf versunken, pumpte nun Adrenalin durch seinen Körper, vertrieb jedes Zeichen von Müdigkeit und machte ihn für potentielle Gefahren bereit. Dass er sich sofort wehrte, schien den Angreifer zu überraschen.
Eine alte und schnell einleuchtende Weisheit lautet: "Wer zögert, der verliert" Vor allem gilt dies im Kampf, wo Bruchteile einer Sekunde den Handlungsspielraum konstituieren. Diese Situation ist ein Kampf. Darüber hinaus sind beide Kontrahenten im Kampf bewandert und erfahren, sodass sie den Ausgang der Interaktion erahnen konnten, als der Angreifer nach dem kurzen Moment der Überraschung aus einem noch unbekannten Grund zögerte.
Die Gelegenheit ergreifend schlug er dem Angreifer, der nicht viel größer als er zu sein schien, in die Magengrube. Durch das erreichte Taumeln konnte er die Maske, welche sein Gegenüber trug, von seinem Kopf reißen. Dieser jedoch, sichtlich um seine Vermummung besorgt, schwang sich augenblicklich herum, zog seinen Mantel über den Kopf und rannte aus dem Raum. Eine Verfolgung aufzunehmen wurde nur kurz erwogen, doch diesmal war er es, der zögerte und einen Moment später waren schon keine Schritte mehr zu hören. Es dauerte einige Zeit bis Gervaise verarbeiten konnte, was soeben innerhalb von vier Sekunden passiert war. Ein Mordversuch, eine Entführung, ein Streich? Sein noch bebender Körper sackte ins Bett zurück und er dachte nach. Weder konnte er die Identität des Eindringlings ausmachen, noch wusste er, wer wohl etwas gegen ihn oder seine Familie haben könnte. Gervaise würde demnächst der neue Comte von Dieppe werden und die ganze Stadt liebte ihn, auch waren alle Bürger stets zufrieden mit ihrem Herren gewesen, darunter auch die Edelleute der Stadt, welche keinen Neid auf seine Macht zu hegen schienen. An Schlaf war nach solch einer Aufregung sowieso nicht mehr zu denken und so beschloss er, etwas frische Luft zu schnappen. Am nächsten Morgen würde er den Vorfall melden und Untersuchungen veranlassen, doch jetzt würde er sich erst einmal selbst umschauen.
DU LIEST GERADE
Das Unglück von Saint-Jacques
Short StoryEin junger Adliger sieht sich in einer dunklen Novembernacht, mit schrecklichen Ereignissen konfrontiert, die er weder überschauen, noch verstehen kann. Kann er dem Grauen Einhalt gebieten oder ist er nur ein kleiner Spielball der ihn weitaus überst...