Vor neunzehn Jahren ...

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Vor 19 Jahren ...

Keuchend stapfte die junge Frau durch den Schnee.

Kein Lichtstrahl durchdrang die dunkle Gasse. Einzig der Schein ihrer Fackel blieb, um ihr den Weg durch die menschenleere Stadt zu leuchten. Die Flamme warf finstere Schatten an die rissigen Fassaden der Häuser. Irgendwo in der Nähe ließen die unberechenbaren Böen des Windes einen Fensterladen klappern. Es schneite noch immer leicht und Lysanne spürte, wie die Flocken sich in ihren Wimpern und Brauen verfingen. Eine weitere Böe heulte durch die Gasse und fegte ihr die dunkle Kapuze vom Kopf. Lysanne zitterte vor Kälte, doch sie hatte keine Hand frei, um die Kapuze zurück auf ihren rotbraunen Haarschopf zu ziehen. In der einen Hand hielt sie die Fackel. In der anderen ein Kind. Ein Kind, das sie vor nicht ganz einer Woche geboren hatte. Allein. Versteckt in der Scheune einer der Höfe außerhalb von Nelveren. Eine Unterkunft, die sie zumindest vor der bitteren Kälte, dem Wind und dem Schnee geschützt hatte. Doch letzte Nacht hatte man sie entdeckt und davongejagt. Trotz ihres Flehens hatte der Bauer keine Gnade mit der halb verhungerten Frau gezeigt.

Lysanne musste husten und lehnte sich für einen Moment an eine der eiskalten Hauswände. Sie beugte sich vornüber. Presste das Kind dichter an ihre Brust. Hustete erneut und sah im Fackelschein die dunklen Flecken, die jetzt die schneebedeckte Straße sprenkelten. Blut, das sich aus ihrem Rachen gelöst hatte.

Der Husten hatte bereits vor der Geburt angefangen. Doch seit das Kind auf der Welt war, war es noch ernster geworden. Die eisigen Temperaturen und der Nahrungsmangel beschleunigten das Unausweichliche nur.

Lysanne wusste, dass sie sterben würde. Zu viele Menschen waren bereits gestorben. Und aus diesem Grund hatte sie keine Wahl. Nicht, wenn ihr Baby eine Chance haben sollte.

Das bösartige Knurren eines Hundes ließ sie zusammenfahren, als sie zu dicht an einem der heruntergekommenen Hauseingänge vorbeischlich. Sie schleppte sich weiter. Von der dunklen Gasse über den menschenleeren Marktplatz. Ein ganzes Stück am Ufer des Verra entlang. Der Fluss war nicht gänzlich gefroren und Lysanne lauschte auf das plätschernde Geräusch des schwarzen Wassers, während sie weiterlief. Bis endlich die meterhohe Mauer vor ihr aufragte, die in der Dunkelheit der Nacht wie ein gigantischer, finsterer Wall wirkte. Lysanne folgte der Mauer in Richtung Osten, bis sie endlich vor dem schweren Eichentor stand. Sie steckte ihre Fackel in einen der schmalen Halterungsringe. Dann streckte sie die Hand aus und zog ein paar Mal an der fransigen Kordel der Glocke. Ihre Finger waren ganz steif und es schmerzte sie, sie zu bewegen.

Während Lysanne wartete, dass jemand öffnete, sah sie hinab auf das Bündel an ihrer Brust. Das Kind schlief tief und fest in ihren Armen. Eine Schneeflocke landete auf seiner Wange und schmolz sofort dahin. Lysanne wischte ihrem Baby vorsichtig über die Haut und flüsterte ein leises Gebet, während sie den schmalen Stein in der groben Kupferfassung richtete, der mit einem dünnen Lederriemen um das Kind herumgewickelt war. Mit einem eiskalten Finger und brennenden Augen strich sie über das eingravierte Symbol eines Baumes an der Fassung. Im Innern des Steins tanzten golden glänzende Nebelschwaden. Der Anhänger war das Einzige, was Lysanne ihrem Kind hinterlassen konnte.

Dann endlich wurde die Tür mit einem heftigen Ruck geöffnet. Die rostigen Scharniere knarrten und ein grimmiges Gesicht starrte Lysanne an.

„Was willst du?", fragte der Gardist. Anstelle einer Fackel hielt er eine Laterne mit einer Handvoll Nachtsimmer darin. Darüber knirschte Lysanne mit den Zähnen. Sie schluckte hart und holte tief Luft.

„Ich muss mit Hauptmann Dyanthes sprechen", sagte sie möglichst selbstsicher. Doch ihre Stimme klang rau und müde. Der Gardist lachte.

„So, so! Und was sollte so ein schmutziges, kleines Ding wie du von unserem Hauptmann wollen?"

A Throne of Night and DarknessWo Geschichten leben. Entdecke jetzt