Der letzte Tanz

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Langsam stand er vom alten Sessel auf, welcher schon viel Staub eingefangen hatte, und schlich zum braunen Kasten. Der Sessel hatte eine hässliche Musterung, mit diesen vielen kitschigen Blumen würde er eher seiner Oma gefallen. Er hasste bunte Blumenmuster. Er hasste generell irgendwelche abstrakten Muster.


Der Teppich, den sie sich aus Persien besorgt hatten, und auf welchem er lief, war seit einigen Jahren schon nicht mehr gesaugt worden. Seine brüchigen Knochen machten einfach nicht mehr das, was er wollte. Wie gerne hätte er sie auf seinen Armen getragen und mit ihr die Welt bereist, wie gerne hätte er wieder auf der Wiese gelegen und mit ihr über die unerträgliche Leichtigkeit des Seins gesprochen. Wie gerne würde er zurück in seine Erinnerungen. Es schmerzte. Sein Körper, alles.

Ihm blieb nichts als ein tristes Zimmer mit Sessel und einem Grammophon.

Ihm blieb seine Erinnerungen an bessere Tage.


Während er sich erhoben hatte und dabei an seinen verkrümmten Rücken fasste, sich mühsam Schritt für Schritt fortbewegte, sah er immer wieder zurück zum Sessel. Er wollte nicht loslassen, er wollte noch ein Zeichen sehen, etwas, nur ein ganz kleines Zeichen was ihn zurückhielt.

Auch wenn der Sessel so hässlich war und er ihn anwiderte, so war dieser Sessel doch gleichzeitig verantwortlich für die schönsten Momente seines Lebens.


Am Ende saßen sie beide, Hand in Hand.

Sie mit ihrer Stricknadel, wie sie tüchtig immer weiter machte. Als hätte sie die Hoffnung nicht aufgegeben. Er, nur die Augen auf sie gerichtet.


Der starke Rauch der in dem ungelüfteten Zimmer an der Decke hinaufstieg, lies den alten Mann husten. Es war kein krankes Husten, eher etwas gewohntes. Er hustete immer etwas wenn er aufstand, das hatte er eben so an sich, dieser alte Mann.


Als er sich eine von den vielen Platten aus dem Regal nahm um sich auf den Spieler zu legen, fasste er noch einmal über sie drüber. Er spürte die Schrammen, er spürte die anderen Zeiten, er spürte die Vergänglichkeit. Es war in seinem Leben alles so vorbei gegangen, so schnell. Er konnte seine Gedanken um sein Leben in zehn Sekunden, wenn nicht sogar weniger, zusammenfassen. Er hatte Angst alles zu vergessen. Die schönen Momente, die traurigen. Er hatte Angst sie zu vergessen. Sie sollte immer in seinem Herzen bleiben, sie sollte ihm immer über die Haare fassen.


Er legte die schwarze Schallplatte auf und am Anfang ertönte dieses gewisse Kratzen, dieses Alte. Dieser Klang nach Verschleiß und nach etwas abgeriebenes. Aber obwohl es so alt war, so klang es doch schön, so lieblich wie diese Musik sich im Raum verteilte.

Der Raum füllte sich mit Musik und es schien, dass die Musik es war, die den Rauch vertrieb. Die Musik brachte Klarheit.


Er sah zurück zu seinem Sessel und zu seinem Tisch. Neben den vertrockneten Blumen in der längst vergilbten Vase. Der Tisch war so geblieben, wie er immer war, Er hatte sich nicht verändert, als sie von ihm gegangen war. Die Frau, die ihn als einzige berührte. Sie war es, warum er morgens zum Bäcker ging und mit einem Lächeln durch den Regen ging.


Dieser alte Mann war schon komisch, mit seinem Sessel, dem Grammophon und dem alten Beistelltisch mit der Vase, den Blumen, der Decke, dem alten Buch und dem Bild von ihr.


Das Bild war alt, sehr alt. Es war kein Bild, welches man in einem Bilderbuch finden und sagen würde: „Oh sieh mal!", nein es war unscheinbar. Unscheinbar für alle, die die Seite überblättern würden. Denn, auch wenn es keiner sehen konnte, aber sie hatte ein unglaublich schönes lächeln, er würde es immer wieder erkennen.


Das schwarz - weiße Bild blieb an seinem Platz.


Die Musik spielte weiter und der alte Mann tanzte. Obwohl sein Rücken ihm schmerzte, obwohl seine Beine so träge waren, so hatte er das Gefühl von Freiheit, als er tanzte. Er tanzte nicht allein, vor ihm stand seine Frau, so schön wie sie immer war. So schön mit ihrer Brille und den hochgesteckten Haaren. So schön, wie sie ihn anlächelte und ihn das Leben etwas leichter machte. So schön, wie er versuchte die Erinnerungen zurück zu holen.

Doch er schaffte es nicht, er konnte es nicht aufrecht erhalten.


Langsam floss eine Träne aus seinem linken Auge, mehrere folgten. Seine Erinnerungen ließen ihn in die andere Zeit bringen, er lächelte und weinte. Es waren Freudentränen sie zu sehen. Sie beruhigte ihn und dennoch wusste er, es war eine Illusion. Obwohl sie nichts sagte, hörte er auf sich zu bewegen und ging zum Fenster. Er riss die verdreckten Scheiben auf und lies die frische Luft in seine Lungen strömen, er lies den Zigarettenrauch aus der Wohnung und setzte den Spieler auf Anfang.


Er stieg zuerst mit dem einen Bein aus dem Fenster und zog dann das andere schwere nach. Er betrachtete für eine Weile die Straße und sah zu den Bäumen unter seinen Füßen. Er sah zu den Menschen, die unter ihm entlang liefen. Die ganzen Autos sahen aus dieser Höhe aus wie Spielzeuge, die er als Kind immer bekam.

Er dachte an seine Frau und wie gerne er sie habe. Er dachte daran, wie sehr er sie vermisste. Sie war viel zu früh gegangen, viel zu früh hatte man sie ihm weggenommen. Das hatte sie nicht verdient.


Als er an seine Frau dachte, erinnerte er sich an ihre strahlenden blauen Augen, wie sie ihm immer die Hoffnung zeigten, wenn er ganz am Boden war. Seine Beine schwebten jetzt in der Luft, dies schien ihm nach einem Paradoxon. Sie hatte es ihm beigebracht.


Die frische Luft durchzog seine Nase, er sah noch einmal zurück. Er musste nochmal darüber nachdenken ob er es wirklich tun sollte. Hätte sie es gewollt? Wie müsste sie sich fühlen? Sie wäre nicht stolz auf ihn. Er schloss die Augen und atmete tief ein, ein Lächeln zierte seine Lippen.


Während er sich seinen Plänen hingab hoffte er darauf, hätte man ihn aufgehalten. 


*

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