Es war kurz vor zwölf, als ich den ersten Schrei vernahm.
Er kam irgendwo aus einer Ecke. Es war einer dieser Schreie, die man ausstößt, wenn man sich in die Enge getrieben fühlt. Also aus einer Ecke.
Ich quälte mich aus dem Bett, irgendwer musste es ja schließlich tun, und folgte dem angespannten Stöhnen, das nun erklang.
Wie vermutet führte es mich in Lanas Zimmer. Sie lag da, erdrückt von dem Gewicht ihres Bauches und dem kleinen Menschen darin, erdrückt von der Last der Schmerzen.
Selbst Schuld, dachte ich. Ich wäre nie so dumm, schwanger zu werden. Trotzdem hatte ich Mitleid mit ihr und sah ein, dass ich mich kümmern musste. Sonst war nämlich noch niemand da. Es würde keinen Sinn haben, jemanden zu benachrichtigen, der Schrei war so laut gewesen, dass jeden Moment der Aufseher oder die Sozialarbeiterin oder gleich die Krankenschwester hier auftauchen mussten.
Doch bis dahin war ich nun einmal alleine hier.
"Hey, nicht so rum schreien", witzelte ich. Dann sah ich die Tränen in ihren Augen. "Nicht weinen. Die holen gleich eine Hebamme oder schicken dich direkt ins Krankenhaus. Das wird unangenehm, aber es geht ja vorbei."
Sie schüttelt den Kopf. "Keine Hebamme."
"Na, denkste ich hol dir das Ding raus? Oder willste es alleine machen? Dann viel Spaß."
Wieder schüttelt sie den Kopf.
"Siehste? Lass dir lieber von wem helfen, der das schon oft gemacht hat."
Kopfschütteln.
"Also was jetzt? Ohne oder mit Hilfe? Du bist schon völlig verwirrt!"
"Gar nicht. Es soll nicht raus."
"Na, du bist gut. Willst wohl dein ganzes Leben mit so nem fetten Bauch rum rennen? Kann ja nicht gesund sein und sieht auch nicht gerade schön aus."
"Sag bitte niemanden bescheid, ich will nicht, dass sie es rausholen!"
"Du willst mich wohl verarschen! Und bei deinem Geschrei muss ich niemanden mehr bescheid sagen, die sind jeden Moment alle hier."
"Nein! Nein!" Sie kriecht in die hinterste Ecke des Betts und beginnt zu weinen. "Ich werd's versauen! Versauen!"
"Hast du so einen Schiss? Ja, das ist unangenehm, aber so läuft's nunmal und 'ne Million von Frauen hat's schon vor dir durchgestanden."
"Ich werd's versauen. Ich werd's versauen!"
"Ach was, meine Mutter war auch ein riesen Weichei und hat mich trotzdem irgendwie rausgepresst. Du gehst durch die Hölle, doch danach ist es vorbei."
"Nein!" Sie schüttelt so energisch den Kopf, als würde sie Vespen verscheuchen wollen. "Danach geht es doch erst los! Ich muss mich irgendwie um es kümmern und das kann ich nicht! Ich habe bis jetzt alles in meinem Leben versaut und werde auch das versauen! Meine Mutter war scheiße als Mam und ich werde das auch sein."
Jetzt verstehe ich. "Red' doch nicht so einen Müll! Deine Mutter war eine kranke Alkoholikerin und nur an sich selbst interessiert! Das bist du nicht! Und außerdem bist du nicht allein."
"Aber auch ich bin unfähig, Verantwortung zu übernehmen. Und niemand hat mir gezeigt, wie man das alles macht! Ich weiß nicht einmal, ob ich sie säugen kann! Ich habe nicht das Gefühl, dass auch nur ein Tropfen Milch in meinen Titten schwimmt!"
"Quatsch nicht so dummes Zeug, schließlich bist du nicht dumm! Aber sich von seiner dummen Mutter das Glück versauen zu lassen, das wäre dumm!"
Wir hören aufgeregte Stimmen und Schritte, die sich nähern.
Sie sieht mich flehend. "Solange es noch drin ist, merkt es nicht, wie furchtbar ich bin. Wenn es raus ist, wird es mich sofort hassen!"
Die Sozialarbeiterin und die Krankenschwester stürmen herein, zwei stark aussehende Männer in Begleitung, Sanitäter oder so. Lana schreit und schlägt um sich. Die Männer versuchen sie festzuhalten und zu beruhigen, die haben doch keine Ahnung.
"Ich will nicht, dass es mich hasst!", kreischt sie und wehrt sich gegen die Kerle, die sie von beiden Seiten zu greifen versuchen.
Plötzlich habe ich einen Einfall. Ich springe aufs Bett und stürze mich auf sie. Sie will mich schlagen, aber ich bin schneller und kriege zu fassen, was ich gesucht habe: Eine ihrer Brüste. Ich greife die Brustwarze und drücke fest zu.
Sie stutz. Denn auf einmal ist ihr T-Shirt nass. Ihr heiliges pink-blaues Neylon-Sport-Shirt ist eingesaut mit Muttermilch.
Ich lasse los und lächele sie vielsagend an. Sie lächelt zaghaft zurück.
"Du kannst das", sage ich fest.
Sie nickt.
Und als wir sie schließlich aus dem Zimmer tragen, leistet sie keinen Widerstand mehr.