Begegnung im Regen

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Lian

Mein menschliches Leben erschien mir an manchen Tagen so unfassbar weit weg. Dabei war es noch gar nicht lange her, dass ich tagsüber entspannt über das Gelände meiner Uni schlenderte. Erst seit wenigen Monaten wandelte ich nachts als untoter Blutsauger umher, was sich manchmal immer noch so unwirklich anfühlte. Immerhin war ich erst zwanzig Jahre alt, als mein Körper meinte, mich an die Klippe des Todes tragen zu müssen.
Dass ich einen Herzfehler hatte, war schon lange bekannt. Den Großteil meines Lebens hatte ich tatsächlich in einem Krankenhaus verbracht. Bei meinem letzten Anfall hatte es mich erneut in eine Klinik gebracht, doch dieses Mal schien es endgültig enden zu wollen.  

Bis er erschien.

Eines Nachts stand er einfach vor meinem Krankenbett und starrte mich an. Zuerst hatte ich es nur für einen schlechten Traum gehalten oder für eine Halluzination durch die Beatmungsgeräte ... wer weiß schon, was da wirklich drin war? Doch er blickte mir einfach in die Augen und fragte mich, ob ich heute Nacht sterben oder als Untoter weiterleben wollte. Wie meine Entscheidung ausfiel, kann man sich wohl denken, oder? Natürlich wählte ich das Leben. Auch wenn ich im ersten Moment den Typen für komplett bescheuert hielt. Was für Pillen der Kerl wohl geschluckt hatte? Keine Ahnung, aber das Zeug musste gut sein, so überzeugt wie der Kerl von seinen Worten war.

In dieser Nacht starb der Mensch Lian ...
Als ich wieder zu mir kam, spürte ich einen quälenden Hunger in mir, der mich beinahe wahnsinnig werden ließ. Dieses Gefühl wütete in mir, wie ein wildes Tier, das an seinen Ketten zerrte und um die Freiheit kämpfte. Blutdurst!
Der junge Mann aus dem Krankenzimmer trat aus den Schatten hervor und zog sich eine Rasierklinge über die Ader an seinem Handgelenk. Gierig hatte ich mich auf das Blut gestürzt und davon getrunken. Damit war meine Verwandlung komplett.

Lian, der Vampir war geboren!

     Mittlerweile hatte ich mich allerdings an diesen immerwährenden Hunger gewöhnt. Es war nun einfach ein Teil meines neuen Lebens.
Leben ... seltsam, es so zu nennen, wo ich doch in Wahrheit schon seit Monaten keinen Puls mehr besaß. Mein Schöpfer Shay hatte mir schon früh eingebläut, dass ich alles aus meinem menschlichen Leben am besten vergessen sollte. Immerhin waren all diese Dinge Teil eines früheren Lebens. Ich würde nie wieder Zeit mit meiner Familie verbringen oder mit Freunden im Café essen können. Generell war mir menschliche Nahrung inzwischen unmöglich zu essen. Ich vertrug es einfach nicht mehr. Blut war das Einzige, was meinen Hunger befriedigen konnte. Menschliches Blut ... das Blut von Tieren bekam ich auch kaum runter. Lediglich einer der wenigen Vorteile an dem Ganzen war, dass ich nicht jeden Tag Blut trinken musste. Wenn ich ausreichend trank, war der Hunger für ungefähr ein bis zwei Wochen einigermaßen besänftigt. Aber vollständig gesättigt war er niemals. Der Dämon in mir verlangt immerzu nach Blut – unaufhörlich! Doch die Menge an Blut, die ich trank, reichte aus, um nicht die Kontrolle zu verlieren und bei Verstand zu bleiben.
So lange ich konnte, wollte ich mir meine Menschlichkeit bewahren. Doch irgendwann würde der Tag kommen, an dem ich dem Dämon erlag und einen Menschen tötete, das hatte mir Shay bereits prophezeit. Aber diesen Tag wollte ich so lange wie nur irgendwie möglich hinauszögern!

Die wehmütige, menschliche Seite in mir jedoch, zog mich oftmals nachts zu meinem alten Uni Gelände. Als ich noch lebte, gab es dort einen Jungen, den ich zwar nie näher kannte, sondern ihn lediglich öfter mal auf dem Campus gesehen habe, aber er hatte damals schon etwas an sich, was mich faszinierte. So still und fast schon anmutig wie er oft über das Campusgelände lief, hatte er doch immer wieder meine Blicke auf sich gelenkt. Jedoch ... hatte ich ihn nie direkt angesprochen. Und jetzt würde ich dafür erst recht keine Chance mehr bekommen.
So dachte ich zumindest.

Nachdem ich einen weiteren meiner nächtlichen Nostalgie-Ausflüge beendet hatte, machte ich mich langsam wieder auf den Weg zu meinem Schlafplatz.
     Mein Instinkt verriet mir bereits, dass bald die Sonne aufgehen würde und ich spürte auch bereits, wie mein Körper immer träger wurde. Mir blieb nur, diesem Drang zu folgen und mich an einen sicheren Ort zurückzuziehen.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Jul 14, 2022 ⏰

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