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Das Licht der Fackel erleuchtet unser dunkles Heim und nur die trockenen Hustenstöße meiner Schwester durchbrechen die Stille. Ich balle meine Hand zu einer Faust, als sie wieder einen Hustenkrampf bekommt und meine Mutter zu ihr eilt, eine Schale mit Wasser in der Hand.

Das Licht zuckt und wird kleiner, doch wir haben kein Feuer mehr. Ich muss später Holz holen. Eva hustet wieder schmerzerfüllt und ich wende meinen Blick zum Fenster. Draußen wird es langsam hell, am Horizont erscheint ein blasser Streifen gelbliches Licht.

„Kain, holst du bitte Holz?" die Stimme meiner Mutter ist rau und schwach vom Weinen. Doch ich weiß dass meine Schwester nicht überleben kann. Ich habe jede Nacht gebetet, meine Mutter ebenso, doch es ist nur schlimmer geworden.

Ich stehe auf und gehe raus, die alte, rostige Axt mitnehmend. Die kalte Morgenluft verursacht mir Gänsehaut. Die Stofffetzen die ich besitze halten die Kälte nicht zurück. Ich beginne meinen Weg zum Wald, laufe über den schlammigen und zertretenen Pfad und horche auf Geräusche. Doch das Dorf schläft noch, die, die noch leben.

Es sind zu viele gestorben. Viele Leute die ich kannte und es werden weitere Sterben. Eva. Nicht nur sie, auch Mats ist krank.

Ich schließe meine Augen für einen Moment, um meine Gedanken zu klären. Es hilft nichts, wir müssen weiter machen. Auch wenn wir schwach sind.

Ich laufe an unserem brachliegendem Feld vorbei, es hat lange nicht geregnet, und unser Pferd ist auch schon vor Wochen gestorben. Ohne es ist es noch schwerer das Feld zu pflügen oder die Arbeit zu verrichten.

Ich huste kurz und Panik durchzuckt mich.

Werde ich jetzt auch krank?! Ich schlucke. Ich kann meine Mutter nicht alleine lassen, sie wird nicht überleben, selbst wenn sie nicht krank sein sollte. Ich schiebe die bösen Gedanken zur Seite und betrete den ausgedörrten Wald.

Mittlerweile ist es heller, ich kann sehen welches Holz geeignet ist und beginne dann, Scheite zu schlagen. Die Arbeit lenkt mich von den dunklen Gedanken und vom Tod, der über dem Land schwebt, ab und ich bin froh darüber.

Ich trage einen Arm voll zu unserem Haus, als die ersten Leute aufstehen. Gregor vom Nachbarhaus grüßt mich kurz, doch verschwindet gleich im Stall bei seinem Vieh. Ich lade die Äste und Scheite vor der Tür ab, Mutter wird sie holen, wenn sie welche braucht.

Nach einigen Gängen bin ich fertig und betrete unser Haus, welches von Tod nur so stinkt. Ich werfe einen Blick auf meine Schwester, sie schläft, ihr Gesicht glänzt von Schweiß. Ihr dunkelbraunes Haar, welches wir beide von Mutter geerbt haben, verleiht ihr ein noch blasseres Aussehen. Das Feuer was meine Mutter entfacht hat, verbreitet Wärme und Licht im Zimmer. Sie schaut mich müde an, am liebsten würde ich ihr sagen, sie solle schlafen gehen, doch sie wird es nicht machen.

Mein Magen zieht sich schmerzvoll zusammen. Wann war das letzte mal, als wir etwas gegessen haben? Ich seufze. Mir bleibt wohl nichts übrig, als bei den anderen Leuten zu fragen, ob sie etwas haben.

„Ich frage nach Essen, Mutter" teile ich ihr mit, und sie nickt. Ich laufe zu Gregor, doch der ist schon weg, wahrscheinlich bei seinem ebenso trockenen Feld wie unseres. Ich mache mir nicht die Mühe zu klopfen, seine Frau ist vor Tagen gestorben. Sie hatte das Selbe wie meine Schwester.

Das nächste Haus ist komplett leer, dessen Bewohner sind auch schon gestorben. Eine junge Familie. Das Kind war gerade einmal zwei Sommer alt.

Ich laufe weiter, bald komme ich zu Mats' Haus, sein Vater führt gerade die letzten Hühner zum Schlachtplatz. Ich merke wie mein Magen knurrt, ein wenig Fleisch wäre jetzt nicht schlecht.

„Kain" begrüßt er mich und ich nicke.

„Bevor du fragst, ja ich kann euch ein Huhn geben, doch mehr habe ich nicht" beantwortet er meine Frage. Ich atme erleichtert auf, weitere zwei Tage leben.

„Wie geht es Mats?" frage ich leise. Sein Vater schüttelt den Kopf.

„Nicht gut, er ist wärmer geworden und hustet Blut" antwortet er mit belegter Stimme. Ich schlucke und nicke.

„Ich sag ihm schnell Hallo" murmele ich und gehe dann in ihre alte Hütte. In einer Ecke liegt das Strohbett, ein alter Laken und Mats. Er hustet und spuckt dann Blut auf den Boden. Seine von Schweiß feuchten, dunkelblonden Haare kleben an seiner Stirn. Langsam komme ich auf ihn zu, als er mich hört öffnet er seine Augen. Sofort lächelt er, seine blassen blauen Augen fangen an zu strahlen. Fast wie als würde er genau so fröhlich und gesund sein wie früher. Er sagt immer wir haben die selben Augen, auch wenn ich denke, dass meine etwas dunkler sind, wenn auch so blau.

Doch die Augenringe verraten, dass er krank ist.

Ich stelle mich neben ihn, mustere ihn.

„Guten Tag" flüstert Mats leise, immer noch lächelnd. Wie kann er immer noch Hoffnung haben? Ich schlucke.

„Ich habe Holz geholt, ich gebe euch nachher was davon" erzähle ich ihm. Ich will die Stimmung so normal wie möglich behalten. Mats nickt und hustet dann. Er holt tief und rasselnd Luft, was schmerzvoll klingt.

Ich denke an unsere Kindheit zurück, wie wir so oft Ritter und Knappe gespielt haben. Wenn auch selten, weil wir unseren Eltern viel helfen mussten. Doch Mats war immer fröhlich, egal was wir für Arbeit machen mussten. Ich erinnere mich an unsere Streifzüge durch die Wälder. Ich war einmal gestürzt, mein Knöchel hatte tagelang wehgetan und meine Mutter war unglaublich besorgt. Doch er verheilte wieder richtig.

Mats' Nase hatte da nicht so viel Glück, er brach sie sich, während sein Vater und er das Dach ihrer Hütte erneuerten. Nun ist sie etwas schief. Er hat aber keine Probleme mit dem Atmen.

Mats hustet wieder, sein Gesicht vor Schmerz verziehend und ich stehe langsam auf.

„Ich muss wieder zu Mutter und Eva. Nachher bringe ich das Holz vorbei." Mats nickt ohne die Augen zu öffnen und ich gehe langsam nach Hause.

Warum muss uns diese Krankheit so dahinraffen? Warum werden andere Dörfer von Soldaten ausgeplündert? Warum sterben unschuldige Leute, Kinder? Mats ist gerade einmal 19 Sommer alt. Ich finde keine Antwort auf die Fragen, ich wüsste gerne wer das Geschehen in der Hand hat.

Ich betrete unser Haus, und werde von einem Bild begrüßt, welches ich nie vergessen werde.

Meine Mutter sitzt schluchzend neben Eva, sie ist blass und ihre Augen sind gerötet. Eva selber ist noch blasser als sie es vorher war und ich weiß, dass sie tot ist. Ich hole zittrig Luft. Meine ältere Schwester, meine Schwester die mich jahrelang begleitet hat ist tot?

Langsam nehme ich meine Mutter in die Arme, sie krallt sich an mir fest, als würde sie ertrinken. Wir ertrinken alle. Unsere Gefühle ertränken uns. Unsere Geliebten sterben unter unseren Händen und wir können nichts machen. Nichts. Wut steigt in mir auf. Warum? Haben wir das verdient? Was haben wir getan um solch eine Hölle zu erleben?

Numb (Boy x Boy)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt