Ein Zug. Noch ein Zug.
Ich konnte tauchen bevor ich schwimmen konnte. Mein Vater hatte mich von einer Seite des Schwimmbeckens zur nächsten geschickt, immer hin und her, bis ich nicht mehr schrie und nicht mehr weinte. Selbst mit Schwimmflügeln bekam ich Panik und wollte nicht mehr weitermachen. Doch sobald man mir eine Taucherbrille in die Hand gegeben hatte, bekam man mich aus dem Wasser gar nicht mehr heraus. Unter Wasser war alles ganz anders als darüber. Kein Vater mehr, der tobte, weil ich mit sechs Jahren immer noch nicht richtig schwimmen konnte, keine Brüder, die lachten und nur ohne mich Spaß haben konnten, kein Lärm, keine Panik. Unter Wasser musste ich nicht darauf achten, welche Bewegungen ich machte, unter Wasser schwebte ich im Nichts und alles konnte mir egal sein. So war es schon immer.
Noch ein Zug. Etwas Wasser sickerte durch den unteren Rand meiner Schwimmbrille ins rechte Auge, und ich blinzelte, versuchte meine Augen trotzdem offen zu halten. Das Becken war voll, obwohl es relativ spät am Abend und ein Werktag war, in jeder Bahn zogen Schwimmer ihre Kreise, ein Kind spielte mit seiner Mutter Wasserball und ein paar Mädchen hielten sich am Beckenrand fest und ließen ihre Beine im Wasser baumeln. Von unten sahen sie alle hilflos aus, selbst die wirklich guten Schwimmer. Beine rudern wild im Wasser, Arme und Hände versuchen, sich an der Wasseroberfläche festzukrallen, Münder schnappen nach Luft, husten, würgen. Hier unten wurden sie alle ganz klein, so klein wie die Luftblasen, die manchmal durch meine Nase nach oben schwebten. Ich wusste nie genau warum, und so wirklich beschreiben konnte ich es auch nicht, aber unter Wasser wich der Druck auf meiner Brust immer etwas jener Gleichgültigkeit, nach der ich mich so oft sehnte. Unter Wasser stand alles in mir still, und wenn ganz ruhig war und mich nicht rührte, die Augen schloss und der Auftrieb mich langsam nach oben drückte, konnte ich nicht sicher sagen, ob ich wach war oder schlief. Nur das Rauschen der Technik unter Wasser rief mich aus dieser Trance, nur das Brennen in meinen Lungen konnte mich dazu bringen, diesen Ort hinter mir zu lassen. Der Geschmack von Chlor auf meinen Lippen, der warme Druck des Wassers auf meiner Haut, das weiche Türkis der Wasseroberfläche über mir. Vielleicht brauchte ich gar keine Luft.
Ein Zug. Noch einer. Eine Alge strich meinen Körper entlang.
Im Schwimmunterricht in der dritten Klasse waren wir in Gruppen eingeteilt worden, Nicht-Schwimmer und Fortgeschrittene. Ich bin damals freiwillig zu den Nicht-Schwimmern gegangen, aus Angst vor Herausforderungen, vielleicht auch vor Demütigung. Meine Freundinnen hatten mir mein Selbstbewusstsein genommen, immer wenn sie auf dem Schulhof vor mir wegliefen, wenn sie lachten, weil ich im Unterricht eine Antwort nicht wusste, wenn sie flüsterten und kicherten. In der Nicht-Schwimmergruppe war ich unterfordert gewesen, aber ich hatte nichts gesagt, hatte so getan, als wären mir die Bewegungen neu, war etwas langsamer geschwommen, um nicht aufzufallen. Den Kopfsprung traute ich mir nicht zu. Nach Ringen tauchen konnte ich gut.
Ich wischte mit der Hand die Alge aus meinem Gesicht und hielt inne. Ich war schon recht tief getaucht, grün flimmerte ein verirrter Sonnenstrahl über mir durch das trübe Wasser, auf der Suche nach einen Gegenstand, auf den er treffen konnte. Unter mir wogte ein Feld aus Algen aus dem Schlamm, mit einem kräftigen Zug tauchte ich tiefer und ließ meiner Hände über die Spitzen der Pflanzen gleiten. Sie waren etwas zu weich um sich angenehm anzufühlen, dennoch riss ich auf meinem Weg nach oben ein paar Algen ab, und ließ sie in der Leere des morastigen Wassers los. Sie schwebten im Nirgendwo, weder nach unten, noch nach oben, verloren zwischen anderen winzigen Stücken Holz, Alge oder Plastik. Ich tauchte in Richtung des Ufers, wo der Schlamm nicht mehr ganz so tief unter mir war, wo sich der Grund langsam anhob und ich durch die Trübe des Wassers kleine Steine erkennen konnte, und winzige Fische, die geschäftig zwischen ihnen hindurch zischten. Ich vergrub meine Füße im Schlamm und betrachtete die Wasseroberfläche von unten. Sie schimmerte grün, braun, schwarz und blau, und veränderte sich stetig, immer wenn der Wind kleine Wellen auf ihr hin und her jagte. Das Wasser schmeckte süß auf meinen Lippen, die Kälte verlangsamte meine Bewegungen und meine Füße wirbelten Wolken von dreckigem schwarzen Wasser zu mir hinauf. Ich musste nicht atmen. Ich hatte alles was ich brauchte hier.
Ich musste keine Schwimmzüge machen, leichte Bewegungen mit den Flossen an meinen Füßen ließen mich tiefer tauchen, als ich bis jetzt getaucht war. Ich machte einen Druckausgleich.
In der elften Klasse hatten wir jedes Halbjahr eine andere Sportart wählen dürfen, und im zweiten Halbjahr stand Schwimmen zur Wahl. Jeden Montag war ich komplett geschafft nach Hause gekommen und musste ein paar Stunden schlafen, um mich zu erholen, aber es waren die besten Sportstunden gewesen, die ich je hatte. Ich mochte meine Mitschüler nicht besonders, nicht die grölenden Jungs, die glaubten, alles schon zu können, nicht die Mädchen, die in der Umkleidekabine über andere Mädchen redeten, als wären diese nur große, abstoßende Klumpen Fleisch, nicht den Jungen, der mich ansah, als wäre ein Badeanzug für seinen Geschmack viel zu viel Kleidung. Aber ich mochte das Wasser. Meine Arme waren dann viel stärker als sonst, wenn sie durch das Wasser zogen, mein Körper war glatt und hart, als wäre er nur dafür geschaffen worden, durch die Wellen zu pflügen. Ich wollte die Herrausforderung, etwas Neues zu lernen, ich wollte das Brennen meiner Muskeln, ich wollte, dass meine Augen rot und meine Fingerkuppen zerknittert waren, und all das gab mir der Unterricht. Als ich das erste mal die 25 Meter komplett durchtauchte, fühlte ich mich, als hätte ich Allmacht über meine Lungen, meinen Körper, über mein ganzes Leben.
So fühlte ich mich auch jetzt. Der Blick nach unten hatte etwas Beängstigendes, so tief und dunkel lag der Sandboden da, mit Felsbrocken gesprenkelt und mit Seegras spärlich bekleidet. Sanft sah ich es hin und her wogen, so schwarz wie es von hier oben aussah. Um mich her war nichts. Ich war mitten in der Leere, die Oberfläche hatte ich weit über mir zurückgelassen, der Grund war unerreichbar tief. Ich hatte mich nie leerer, nie freier gefühlt als in diesem Augenblick. Ich musste nicht atmen, musste nicht reden, singen oder lachen können, wenn ich nur diese dunkelblaue Leere haben durfte. Vergessen waren der unangenehme Druck der Taucherbrille, das Gefühl des Schnorchels im Mund, die eisige Kälte des Wassers, obwohl es dort oben so heiß war – Ich hatte nur mich, wie ich da schwebte und spürte, wie alle Sünde von mir abgewaschen wurde. Wie die Vergebung, die ich suchte, mich einfach so fand und umschloss, wie das Wasser mich in sich aufnahm, reinigte und befreite. Wenn ich hier unten starb, dann wäre das eben so. Vergessen waren alle, die ich über dem Wasser liebte und verachtete, ich wusste, dass das hier nichts über der Oberfläche jemals übertreffen würde. Ein silbernes Glitzern links unter mir ließ mich tiefer tauchen, hinein in den Schwarm aus winzigen Fischen, die vor mir auswichen und sich jagen ließen, je länger ich hier blieb, desto mehr sah ich das Leben, dass unter dem Wasser pulsierte und arbeitete, kleine und größere Fische, winzige und riesige Punkte im salzigen Wasser, Quallen kurz unter der Wasseroberfläche, Seegras kurz über dem Meeresgrund. Meine Flossen trugen mich weiter nach oben, der Wasseroberfläche, die in allen Stufen von blau und weiß schimmerte, entgegen. Das Wasser wurde langsam wärmer, je höher ich schwamm, je mehr die Sonne nach unten dringen konnte. Meine Lungen brannten nicht, Luft würde ich wohl nie wieder brauchen. Die Welt unter der Oberfläche war genug für mich, mehr wollte ich nicht haben, nie wieder. Die Quallen neben und über mir hatten bunte Flecken, Zahlen und Buchstaben auf den großen Körpern. Die Fische, die neben mir schwammen wichen nicht mehr aus, träge schwebten sie nach oben, nahmen keine Notiz von mir, oben wirbelten Wellen sie hin und her. Hier oben war mehr weiß als blau, angespült von weit her, vielleicht auch nicht, vielleicht kam das alles auch von hier. Ich nahm eine der Flaschen in die Hand, drückte sie leicht ein, ließ sie wieder los. Die Leere musste langsam der Welt dort oben weichen, wie sie all ihren Schmutz nach unten warf. Auch ich war nicht mehr leer. Noch fühlte ich mich sauber, aber wie lange würde das wohl noch so bleiben?
Meine Lungen wollten Luft, meine Muskeln waren müde.
Ich tauchte auf.