Gerne hätte ich mich noch einmal umgedreht. Ein letztes Mal in ihre Gesichter gesehen und versucht aus ihren Blicken ihre Gedanken zu lesen. Ich hätte gerne zurück geblickt und geschaut, wer sich in diesem Moment doch noch für Leandra Arina interessierte. Wer sich wahrlich für mich interessierte.
In meinen Hoffnungen lagen die Augen von mindestens fünfzehn Mitschülern auf meinem Rücken. Darunter die von Vani und Ben, die ich noch hätte am ehesten zu meinen Freunden zählen können.
Realistisch gesehen waren es vielleicht drei oder vier Menschen, die meinen Abgang überhaupt mitbekamen. Davon wahrscheinlich mindestens einer, der nur zufällig in der Nähe der Schule am Spazieren war und das Drama daher mitbekam.
Doch im Endeffekt konnte ich nicht sagen, wer wirklich dort war. Ich konnte nicht sagen, wer sich wirklich interessierte. Für mich. Ich konnte nicht einmal sagen, wer überhaupt die Möglichkeit dazu hatte. Ich würde es nie sagen können.
Als eine kalte Hand mich an meinem nassen Arm packte, hegte ich kurz Hoffnungen, meine Augen würden einen Blick auf die Brücke erhaschen. Die Person wollte mich umdrehen und mich davon abhalten zu gehen. Mir noch eine Chance geben, doch noch einmal zu sehen, wer wirklich und ehrlich hinter mir stand.
Doch meine Hoffnungen wurden enttäuscht.
Der Hand folgten zwei Finger, die meinen Hals streiften. Danach fühlte ich, wie ich grob ans Ufer gezogen wurde. Ich bekam die Möglichkeit noch einmal den Himmel zu sehen. Es war kein schöner Himmel. Es war bewölkt und ich spürte trotz meines triefend nassen Körpers den leichten Nieselregen auf mir. Danach zogen die beiden Finger meine Augen zu. Sie würden nie wieder das Licht erblicken.
Hätte der Rettungshelfer meinen Körper noch einmal zur Seite gedreht, hätte ich vielleicht sehen können, wer oben auf der Brücke stand. Ich hätte die Möglichkeit gehabt zu erraten, wer von den Zuschauern mich in den flachen Fluss mit den spitzen Steinen direkt unter der Oberfläche geschubst hätte. Ich hätte zumindest eine Auswahl an Leuten gehabt, denen ich die Schuld für meinen Tod hätte geben können. Oder zumindest hätte ich abwiegen können, wer der Beobachter dort oben mich am ehesten getötet haben könnte. Ich hätte es nie mit Sicherheit gewusst, aber zumindest hätte ich die Beschäftigung des Ratens im ewigen Nichts gehabt. Ich hätte eine Auswahl an Leuten gehabt, die es gewesen oder eben nicht gewesen sein könnten.
Mit meinen geschlossenen Augen hatte ich nichts. Ich hatte niemanden.
Wie ich vor meinem Tod niemanden gehabt hatte.
