Undurchdringlicher grauer Nebel senkte sich über die weiten Wiesen und Felder von Balanté. Still und leise, wie die düstere Vorahnung, dass hier bald etwas Bedeutungsvolles geschehen würde, glitten die Massen über die Gräser und verhüllten sie im Mantel der Verborgenheit.
Die Tiere im Wald, die ängstlich die Köpfe aus ihren Verstecken reckten, zogen sich flink zurück. Sie spürten, dass dieser Nebel nicht normal war. Dass er nicht von der Macht der Natur ausging, sondern von etwas anderem, das es wagte, hier, in den heiligen Ebenen des Landes, diese schier unendliche Menge an Magie zu benutzen. Die Vögel verstummen. Es war, als hielt die Natur den Atem an.
Eine dunkle Gestalt glitt lautlos zwischen den grauen Massen dahin. Ihre Schritte wurden durch das nasse Gras gedämpft, der Umhang flatterte um ihre Schultern und verhüllte sie fast vollständig. Der Mann hatte die rechte Hand erhoben, die Handfläche zum Himmel gerichtet, die Finger abgespreizt und leicht gekrümmt, als wolle er nach etwas Unsichtbaren greifen.
Nur wer genau hinsah erkannte, dass die Luft um seine Hand leicht flimmerte.
Lautlos wie ein Schatten glitt der Mann über die Ebene. Er trug eine große Tasche bei sich, die ihm schwer auf den Schultern lastete und seine ohnehin schon in die Jahre gekommene Gestalt zur Erde zog. Nach vorne gebeugt und mit der freien Hand auf einen Wanderstock gestützt stiefelte er unerbittlich vorwärts.
Die Nebel wallten auf, sacken ab, in einem unsichtbaren Takt, den der Mann vorgab. Schwenkte er die Finger zu einer Seite, glitt auch der Nebel weiter. Ein kleines Zucken mit der Fingerspitzen reichte aus, um den Nebeln zu befehlen, was sie tun sollten. So hielt er sich im Verborgenen.
Der Unbekannte war Estas Torentia, ein Magier der vierten Legion aus Balanté.
Er war schon früher hier gewesen, als er die Grundausbildung zum Magier fast abgeschlossen hatte und sich auf die Suche nach seltenen Kräutern hatte machen müssen. Damals noch hatte ihm dieser Ort Angst gemacht. Nun nicht mehr. Er war nicht nur älter, erfahrener und mächtiger, sondern hatte sich jahrelang Kenntnisse über diesen Ort angeeignet und wusste, dass ihm hier nichts geschehen würde.
Die Ebenen, über die er schritt, waren heilig. Kaum eine Menschenseele wagte sich hierher, denn es hieß, der Ort sei verwunschen. Aberglaube, wie Estas fand. Die Ebenen waren voll von Geschichten und Legenden, aber verwunschen waren sie nicht. Er hatte sich jahrelang an der Akademie mit den alten Geschehnisse und dem Kampf der Götter beschäftigt, der hier ausgetragen worden war.
Und trotzdem hielt der Magier sich mit seinem Nebel im Verborgenen.
Es lag nicht daran, dass er Angst hatte, von etwas Unbekanntem angegriffen zu werden, im Gegenteil - er wollte nicht, dass die anderen Magier ihn fanden, bevor er fertig war.
Schon seit er vor einer Woche die Akademie fluchtartig und überstürzt verlassen hatte, waren sie ihm auf den Fersen. Der Nebelmagier hatte sich in seinen ersten Jahre überwiegend mit der Tierkunde an der Akademie beschäftigt und Vorlesungen gehalten, bis er auf die alten Legenden der heiligen Ebenen gestoßen war. Fasziniert von jahrhundertealten Ereignissen hatte er sich zurückgezogen und die Mythen studiert, bis er sie auswendig kannte. Vor allem die Geschichte der Götter Ramos und Baa, die sich einst bekriegt hatten, war ihm nie wieder aus dem Kopf gewichen. Und deshalb war er hier.
Estas kniete sich an den Rand eines Hügels, wo zarte Blumen wuchsen. Ihre Blätter waren noch röter als der Sonnenaufgang, wirkten im Nebel aber unheimlich trist. Von Tautropfen benetzt versteckten sie sich unter einem Stein, den der Magier als Ablage für seine Tasche nutzte. Neugierig sah er sich um, ob die Gruppe Magier, die ihn verfolgte, ihm schon auf den Fersen war.
Doch der Nebel eröffnete ihm nur einen Blick auf die graue Wand, die er selbst erschaffen hatte und die ihn wie Luft umgab. Nirgends zeichneten sich Schatten oder Silhouetten anderer Gestalten ab.
Fast war Estas ein wenig enttäuscht von seinen Freunden und Kollegen - oder sollte er ehemalige Kollegen sagen? Er hätte gedacht, dass sie fähiger wären und ihn eher aufspüren würden, schließlich hatte er nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass er die alte Legende in Frage stellte. Als er die Akademie verlassen hatte, hatte er sogar nur das Nötigste mitnehmen können, denn die Reise war weit und er schon von unzähligen Jahren der Arbeit gezeichnet. Es würde ihn wundern, wenn die klugen Köpfe, mit denen er gearbeitet hatte, nicht Eins und Eins zusammenzählen und ihn verfolgen würden.
Das befriedigende Gefühl der Überlegenheit erfüllte ihn, als er seinen Blick über die Ebene schweifen ließ. Oh, er würde in die Geschichte eingehen, als Mann, der einen Gott wiedererweckt hatte. Wohlig lächelnd streckte er die Hand aus und fuhr über die feuchten Blüten der Blumen, bevor er bei der Größten innehielt und sie ausriss.
Die kleine Blume neigte gequält den Kopf, als der Mann ihren Lebensfaden durchtrennte und sie hochhob. Mit zusammengezogen Augenbrauen musterte Estas sie, analysierte regelrecht, ob sie denn auch für sein Vorhaben geeignet war, und nickte zufrieden. Er öffnete seine Tasche, aus der der Duft unzähliger Kräuter und Pflanzen drang, und schob die rote Blume hinein.
Schwerfällig stand er wieder auf. Durch seine abgelenkte Konzentration hatten sich die Nebel etwas verzogen und gewährten ihm einen weiten Blick über die heiligen Ebenen von Balanté. Der Ort befand sich im Norden vom Land der Magier und war dementsprechend kühl. Estas schlang seinen Umhang fester um sich, hängte sich die Tasche über und schmunzelte selbstgefällig über seine Absichten.
Dann lief er weiter.
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Hallo, ihr Lieben! Schön, dass ihr »Der Stab des Ramos« begonnen habt, zu lesen. Die Geschichte spielt in einer fernen Welt, in der es so einige Mysterien gibt. Was glaubt ihr, hat Estas mit den alten Legenden vor? Warum hält er sich im Verborgenen?
Diese Fantasy-Kurzgeschichte ist etwas ganz besonderes für mich, da ich sie bereits 2020 geschrieben habe, aber jetzt erst veröffentliche. Daher würde mich eure Meinung sehr interessieren. Schreibt mir gerne.
Und dann wünsche ich euch viel Spaß beim Weiterlesen. :)
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Der Stab des Ramos (Kurzgeschichte)
Short StoryIn den heiligen Ebenen des Landes Balanté kämpften einst die Götter Ramos und Baa um die Vorherrschaft über die Welt. Baa gewann und stürzte Ramos als Gefangenen in die Unterwelt, wo er jahrhundertelang nie wieder das Licht erblickte. Unzählige Jah...