Winterheim - Teil 1

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„Ach Scheiße!"

Alysons Fluch echote ein paar mal in dem riesigen Schacht hin und her, ehe er von den wummernden Pumpwerken geschluckt wurde. Zornig prallte sie zurück und konnte sich gerade noch beherrschen, den riesigen Schraubenschlüssel, der ihr gerade auf den Fuß gefallen war, nicht den endlosen Abgrund hinunterzutreten. Stattdessen schnaubte sie ihre übrige Wut heraus, hob das Werkzeug wieder auf und setzte erneut an, die widerspenstige Schraubmutter anzuziehen.

Das hier wäre nicht ihr Job gewesen, wenn Roland letzte Woche seinen Kontrollgang vernünftig gemacht hätte!

Mit dem Gewicht ihres ganzen Körpers wuchtete sie den Schraubenschlüssel herunter. Aus der undichten Stelle an dem gut vierzig Zentimeter durchmessenden Rohr spritzte weiter heißes Wasser heraus.

Es wäre auch nicht ihr Job gewesen, wenn James den Wasserdruck im Auge behalten hätte! Noch eine Vierteldrehung, und es spraddelte trotzig weiter.

Oder, wenn Arthur nicht beschlossen hätte, heute spontan lieber mit den Fischern zum See zu fahren. Oder, wenn Bigsby sie ins Aufsichtsteam gelassen hätte. Oder, wenn irgendjemand sonst sich auch mal darum kümmern würde, dass der verschissene Generator nicht auseinanderbrach!

Mit diesem Mal erstarb das Zischen endlich. Sicherheitshalber zog sie die Mutter noch etwas weiter an, bis selbst die Hebelwirkung des Schraubenschlüssels, der länger als ihr eigener Arm war, nichts mehr bewegte. Erschöpft ließ sie das Teil sinken und wischte sich über die Stirn. Einen Augenblick lang betrachtete sie die Schweißperlen auf ihrem Handrücken. Die meisten Leute in Winterheim würden es als Privileg ansehen, einen warmen Arbeitsplatz zu haben. Draußen, am Rand der Enklave, war es so kalt, dass man nicht mal nach einer zwölf Stunden Schicht voller Schwerstarbeit schwitzen konnte.

Alyson gestattete sich noch einen Moment zum Verschnaufen, in dem sie den Blick durch den zwanzig Meter breiten Schacht wandern ließ, der unter dem metallenen Laufsteg, auf dem sie stand, geradewegs in die Tiefe stürzte. Sie hatte gut daran getan, ihr Werkzeug nicht dort hinunterzukicken. Das Problem waren nicht mal die vielen Stufen, die sie bis dort unten zur ersten Pumpstation hätte hinab und wieder hinauf steigen müssen, sondern die giftigen Dämpfe, die unsichtbar dort unten herum waberten.

Unter Winterheim befand sich eine vulkanische Heißwasserquelle, die die Konstrukteure des T9 Generators erschlossen hatten, um dessen Heizleistung zu steigern und den Kohleverbrauch zu senken. Dummerweise hatten sie dabei auch ein Gasreservoir angebohrt. Die Arbeitsbedingungen am völlig übereilt hochgezogenen Generator waren ohnehin schon katastrophal, aber den giftigen Gasen hatte man damals nur ein paar vor den Mund gezogene Schals und eine provisorische Abluftanlage entgegengestellt. Vermutlich waren an den Folgen der Vergiftung noch mehr Arbeiter gestorben, als beim Generatorkernbruch in der ersten Testphase, der die Leben einer gesamten Schicht gefordert hatte. Zum Glück lief der Generator nun seit zwei Jahren größtenteils problemlos. Solange das so blieb, und er die Luft an der Oberfläche wärmer hielt, als die dort unten, blieben die Giftgase wo sie waren.

Alyson schulterte ihren Schraubenschlüssel und machte sich an den Aufstieg. An der zweiten Pumpstation angekommen, warf sie einen Blick auf die Manometer. Nach einem sanften Schlag mit der Handkante gegen das Messgerät, hüpfte die Nadel wieder in den grünen Bereich. Zufrieden nickte sie und stieg die letzten paar Wendungen der Treppe hinauf und betrat das Fundament des Generators.

Die Luft hier war dermaßen heiß und schwül, dass Alyson das Gefühl hatte, frisch gekochten Wasserdampf zu atmen. Vermutlich tat sie das auch, denn einige Meter über ihrem Kopf liefen die Dampfkraft Rohrleitungen der gesamten Stadt zusammen und formten ein wüstes Knäuel, in dem sich, auf mächtigen Stahlträgern ruhend, der Kern des Generators befand. Den Kessel und die Brennkammer selbst konnte sie zwar von hier aus nicht sehen, aber an einigen Stellen drang etwas von dem rötlichen Licht des Kerns an den Rohrleitungen vorbei. Es gab nur ein einziges Ventilationssystem, das die Maschinenhalle mit einem überlebenswichtigen Minimum an Frischluft versorgte. Doch so schlimm die Luft auch war, es war nichts gegen den buchstäblich niederschlagenden Lärm, mit dem die Maschinen im Fundament kontinuierlich um die Wette donnerten. Alyson kramte ein paar Korkstopfen aus den Taschen ihres Overalls hervor und schob sie sich in die Ohren. Es half nicht wirklich. Wenn sie sich selbst mitten in seinen Eingeweiden befand, dann hämmerte sich der Lärm des Generators einfach mit Gewalt in ihren Kopf durch.

Schwarzer SchneeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt