Nachtigall

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,,Und wüsstens die Nachtigallen
Wie ich so traurig und krank
Sie ließen fröhlich erschallen
Erquickenden Gesang."
- Heinrich Heine

An den folgenden Abenden war Hades immer da. Er blieb meistens still. Vielleicht um Hayley nicht auch noch daran zu erinnern, dass er da war. Es fiel ihr so einfacher, ihre üblichen Lieder zu singen. Manchmal blieb er Stunden, um ihr zuzuhören.
So wurde sie mutiger. Nach zehn Tagen hatte sie von Kinderliedern wieder zu den Opern gewechselt.

Es ging so über Wochen. An dem besagten Abend aber wollte Hayley ein besonderes Opernlied singen. Ein Einzelstück, das früher ihre erste Erfahrung mit dem Singen in dieser Höhe gewesen war. Es war ,,Die Nachtigall" von Alban Berg. Auch unabhängig davon hatte dieses Lied eine große Bedeutung für sie. Ihr Vater war zwar nur halb Deutscher, aber er hatte bis zum seinem 23ten Lebensjahr in Deutschland gelebt und war erst desertiert, als der zweite Weltkrieg schon als verloren galt. Obwohl Hayley in England aufgewachsen war, hatte er sie zweisprachig erzogen. Sie konnte fließend Deutsch sprechen und dementsprechend auch gut dieses Lied singen. Sie würdigte damit auch ihre deutschen Wurzeln. Zumal das Lied ja auf einem Gedicht von Theodor Storm basierte. Alban Berg war zwar Österreicher gewesen. Theodor Storm hingegen Deutscher. Es war riskant, gerade dieses Lied zu singen. Eben weil es so bedeutungsgeladen war. Sie hatte es noch nie jemandem vorgesungen außer damals ihrer Gesangslehrerin. Selbst ihr Vater kannte es nicht.

Das Lied selbst war kurz und würde nur einen Teil der Zeit füllen. Dafür war es sehr anstrengend.
Dementsprechend wollte sie dieses Mal auch von ihm eine Rückmeldung haben.
Den Rest der Zeit würde sie mit weniger schwierigen Liedern füllen müssen.
Er hatte sich ihr Vertrauen verdient, indem er sie weder drängte noch beschämte.
Stattdessen hörte er einfach nur zu.
Er gefiel ihr zunehmend. Es wurde zu ihrem Ritual, dass er an der Kapelle auf der Steinbank saß, während sie ihre Arbeit erledigte und vor sich hin trällerte. Wie eine Nachtigall, die extra für ihn ihr Lied sang.

Auch an diesem Abend mit diesem besonderen Lied war es zuerst nicht anders.
Sie hatte wieder Blumen mitgebracht. Diesmal für das Grab von John und Belinda Sant Matthew. Sie hatte die alte Belinda noch vor Augen, die selbst das Grab ihres Mannes pflegte. Sie war auch weit über neunzig gewesen, als sie dann letztlich starb. Beide hatten wohl keine Kinder. Zumindest würde das Grab seitdem verwuchern, wenn Hayley sich nicht darum kümmern würde.
Hades inspirierte sie dazu, auch andere Pflanzen zu wählen. Da die Sant Matthews sich noch über den Tod hinaus geliebt hatten, hatte sich dieses Mal für rote und weiße Rosen entschieden. Es waren aber robuste Sorten.
Als sie das rostige Friedhofstor hinter sich schloss, war es noch hell. Sie war etwas früher gekommen, weil sie es einfach nicht hatte abwarten können.
Ihr Herz klopfte schnell. Was würde er nun zu ihrem so wichtigen Lied sagen?

Enttäuschung überkam sie, während sie über den Friedhof zu der Kapelle ging. Er wartete noch nicht auf sie. Aber das würde ja nichts bedeuten. Sicherlich würde er auftauchen, wenn es dunkel wurde.

Sie stellte ihr Tasche und die Blumen auf die Steinbank und schloss die kleine Kapelle auf, um sich ihre Arbeitsutensilien zu holen.
Danach ging sie mit den Sachen und den Blumen zum Grab der Sant Matthews. Sie band sich ihre schwarzen, seidigen Haare zum Zopf und machte sich dann an die Arbeit.
Bis er kommen würde, würde sie ein einfacheres Lied singen.
Sie summte diesmal ein ein klassisches Stück von Vivaldi ohne Singstimme. Das Larghetto e spirituoso aus dem Concerto in A Moll für zwei Violinen. Sie genoss es, wie ihre Stimmbänder beim Summen vibrierten. Dazu den Geruch der Erde und der zarte Duft der Rosen.
Immer wieder linste sie zur Steinbank, aber ihre Tasche stand noch allein dort.
Ihr Herz klopfte vor Aufregung. Was würde er wohl zu diesem ihr so wichtigen Lied sagen?

Die Zeit verging. Hayley war mit dem Grab der Sant Matthews fertig und es gefiel ihr. Die Dunkelheit hatte sich wie ein samtiges Tuch über sie gelegt. Sie sah jetzt wieder in dem üblichen silbrigen Licht. Er war immer noch nicht da. Dabei war es jetzt schon fast zwölf. Er kam noch nie so spät.
Hayley war beunruhigt. Natürlich konnte er nicht wissen, welches Lied sie ausgewählt hatte. Er konnte nicht wissen, wie wichtig ihr das war. Trotzdem sprach es Bände, dass er gerade an diesem Tag zu spät kam. Wenn er denn überhaupt kam.

TotensängerinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt