ℓιѕвσи

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(^Vibes 🥺❤️🫶)

Es ist mitten in der Nacht von Sonntag zu Montag, als ich den Flughafen von Heathrow betrete. Ohne Gepäck, nur mit Geld, meinem Handy und meinem Ausweis in der Hand und Tränen in den Augen. Was für eine dumme Entscheidung ist es gewesen, wirklich mitten in der Nacht hierherzufahren? Ich sollte wirklich zurück in meine winzige, kalte Wohnung und mich frierend schlafen legen. Dieser Gedanke ist zwar schmerzhaft, vor allem wenn ich weiß, dass sich dann mein tägliches Leben am nächsten Morgen einfach wiederholen würde. Der Stress überrollt mich immer mehr - mittlerweile habe ich nicht einmal mehr die Möglichkeit, mehr als vier Stunden pro Nacht zu schlafen und ich wundere mich trotzdem immer, warum mir oft plötzlich schwindelig ist und ich Kopfschmerzen und Konzentrationsschwierigkeiten habe. Dagegen müssen schon seit fast zwei Monaten Medikamente helfen, aber nun kann ich nicht mehr - dieses Gefühl drückt schon die ganze Nacht lang auf meine Gedanken. Ich muss einfach weg, keine Ahnung, wohin. Es ist der Wille, zu fliehen. Vor dem Stress, der Angst, den Schmerzen, vor dem anstrengenden Medizinstudium, vor meinen Eltern, die endlos enttäuscht sein würden, wenn ihre Tochter nicht eines Tages Oberärztin wird. Ich habe keine Flugtickets, keine Koffer, sondern nur den Willen, weit wegzufliegen und meinen Alltag, den Druck, den Stress für ganz kurze Zeit zu vergessen. Schließlich ist mir das nicht einmal in meinen kurzen Semesterferien dreimal im Jahr nicht möglich - dort muss ich schon bis tief in die Nacht für die nächsten Klausuren lernen oder ich bin im Praktikum in irgendeinem Krankenhaus. Mir ist schon von Anfang an klar gewesen, dass ich in meinem gesamten Studium keine Freizeit haben werde. Nebenbei habe ich Schulden bei der Universität, die ich in den nächsten Jahren noch abbezahlen muss und der stetige Druck durch meine gesamte Familie lastet auf mir. Meine beiden Eltern sind Chefärzte in einer Privatklinik in London und sogar ihre Väter haben schon Medizin studiert, ihre Mütter Krankenschwester gelernt und dort gearbeitet. Mein großer Bruder ist Chirurg und rettet im Ausland Menschen, die sich eine ärztliche Behandlung normalerweise nicht leisten können oder von Kriegen und Kämpfen verwundet sind. Und dann gibt es mich - eine verzweifelte Medizinstudentin, auf der der Druck einer ganzen Familie mit drei Generationen an Medizinern lastet. Ich habe in diesem Frühsommer nicht einmal meinen 20. Geburtstag feiern können, weil ich so sehr mit dem Lernen für die wichtigen Klausuren beschäftigt war. Es müsste doch für jeden Menschen mehr als nur verständlich sein, dass ich fliehen, mich nur für eine kurze, wunderschöne Zeit dem Alltag entziehen will.
Die Flughafenhalle ist riesig, ich als einzelne, kleine, hilflose Person gehe vollständig in dieser unter, während ich mich auf eine Treppe, die nach oben zu den Schaltern führt, zubewege. Ich ganz alleine ohne irgendwelche Koffer oder anderes Gepäck. Nur ich, Emma Gray, ganz unscheinbar und unwichtig, reihe mich in dem Moment in eine kurze Schlange vor irgendeinem der Schalter von irgendeiner Fluglinie mit einem mir unbekannten Reiseziel an. Ich will weg - anfangs hatte ich geplant, weit weg nach Amerika oder Australien zu fliegen, aber mittlerweile ist mir sogar egal, wo ich mich am Ende befinde. Hauptsache ich bin weit weg von meiner eigentlichen Heimat London. Vor mir steht eine Frau, die fast einen ganzen Kopf größer ist, als ich. Sie hat lange, kastanienbraune Haare, die zwar komplett glatt sind, aber dennoch seidig aussehen und ihr etwas länger als bis zu den Schultern reichen. Ein längerer, olivgrüner Mantel bedeckt ihren Rücken, sie trägt weiße Schuhe mit pastellgrünen Mustern an der Seite. Mein Blick wandert wieder zu ihren langen, seidigen Haaren. Sie müssen sich wahnsinnig weich anfühlen.
-"Kann ich Ihnen helfen?", reißt mich eine Stimme aus meinen Gedanken. Eine ältere Frau hinter dem Schalter sieht mich verwirrt und ein wenig genervt an. Ich starre erst auf den Fußboden und dann wieder in ihr angestrengtes Gesicht. Stotternd beginne ich irgendetwas zu stammeln, was nicht einmal ich selbst komplett verstehe und der Gesichtsausdruck der Frau hinter dem Schalter wurde immer genervter.
-"Haben Sie einen Flug gebucht, oder nicht?", fragt sie monoton und mit einem angestrengten Unterton in der Stimme. Ich verstumme immer mehr und die Tränen kehren zurück in meine Augen. Die Frau schnaubt angestrengt. "Sie halten hier den ganzen Betrieb auf... Gehen Sie bitte, wenn Sie keinen Flug gebucht haben!", meint sie genervt und ihre Stimme wird immer lauter, die Tränen in meinen Augen immer mehr. Fast fließen sie schon meine Wangen entlang.
-"Sorry, sie gehört zu mir...", höre ich plötzlich eine tiefe, aber aufgebrachte Stimme ein paar Meter neben mir. Sofort drehe ich mich um - ich bin vollkommen alleine hier, also zu wem soll ich schon gehören? Die Stimme gehört zu der Frau mit den langen braunen Haaren, die mir vorhin schon aufgefallen ist. Ich hätte gedacht, dass sie schon längst gegangen ist, aber irgendetwas hindert mich daran, ihr zu widersprechen. Der Ausdruck in ihren scheinbar ziemlich dunklen Augen ist unwahrscheinlich, liebevoll und vertraut, obwohl ich sie kein bisschen kenne. Die Frau hinter dem Schalter nickt und immer noch ein wenig perplex gehe ich auf die braunhaarige Frau in dem hellgrünen Mantel zu.
"Danke", flüstere ich, während mir ungewollt eine der angestauten Tränen aus dem Auge fließt. Die Frau lächelt. Ich betrachte ihr Gesicht ganz genau - die ganze Struktur von diesem wirkt so vertrauensvoll und der Blick, mit dem sie mich ansieht, kommt mir bekannt vor.
-"Kein Problem... Ich habe irgendwie gespürt, dass du einfach wegwillst...", meint sie, deren Namen ich nicht einmal kenne, leise und sieht mich immer noch liebevoll an. Ich sehe in ihre pechschwarzen Augen.
"Wie?...", hauche ich fast, aber die große Frau mir gegenüber lächelt nur.
-"Ich habe es einfach gespürt... Du siehst traurig und gestresst aus...", erklärt sie und weiterhin liegt ein liebevolles Lächeln auf ihren perfekten Lippen. "Danke...", flüstere ich ein weiteres Mal, mein Blick bleibt dabei immer noch an ihren Augen hängen. Plötzlich streckt sie mir ihre Hand entgegen und sagt: "Ich bin Malin...". Zögerlich schüttele ich ihre Hand - ich bin mir nämlich jetzt nach fast drei Jahren der Pandemie nicht mehr sicher, ob man sich überhaupt noch die Hände geben kann. Aber ich erwidere ihre Geste und stelle mich ebenfalls vor. "Ich bin Emma", sage ich und Malin lächelt, bevor sie ihre zwei Koffer nimmt und dann mit mir neben ihr auf die Gates zugeht.
Die ganze Zeit über spüre ich hin und wieder Malins Blick auf mir und als wäre ich verrückt, stelle ich mir in immer kürzeren Abständen vor, wie es wäre, wenn ich jetzt ihre Hand in meine nehmen würde. Verdammt, ich kenne sie nicht einmal, sagt mir mein Gehirn und schlägt sich diesen Gedanken schnell wieder aus dem Kopf. Trotzdem stelle ich mir wirklich aktiv vor, dass ihre Haut warm und weich ist, schließlich wirkt schon ihre gesamte Aura vertrauensvoll und einladend. Ich kann erkennen, dass sie ein guter Mensch mit einem guten Herzen ist. Woher dieser Eindruck kommt, weiß ich auch nicht, aber ich würde Malin mein Leben anvertrauen, auch, wenn ich sie erst seit wenigen Minuten überhaupt kenne. Sie hat eine solch vertrauensvolle Aura und strahlt eine unwahrscheinlich starke Ruhe aus.
Es fühlt sich kein bisschen seltsam an, mit einer praktisch fremden Frau durch den Flughafen zu gehen. Ich weiß nicht, wer genau sie ist, was sie vorhat. Und erst jetzt frage ich mich, wo sie überhaupt hinwill.
"Wo geht es denn überhaupt hin?", stelle ich die Frage, die mir seit einem Moment durch den Kopf geht und Malin bleibt kurz stehen. Ich hebe meinen Kopf leicht an, schließlich ist diese wunderschöne Frau einen Kopf größer, als ich. Ihr Lächeln wird immer stärker und ihr Blick wandert zwischen meinen beiden Augen hin und her. Einerseits ist es ein warmes, herzliches Lächeln mit einem vertrauensvollen Ausdruck in ihrem Blick, aber andererseits ist es ein tiefes Starren in meine Augen, welches mir ungewollt ein warmes Gefühl in meinem Herzen bereitet. Kurz streicht Malin sich eine ihrer langen kastanienbraunen Haarsträhnen aus dem Gesicht, bevor sie mir tief in die Augen sieht und dann lächelnd flüstert: "Lissabon".

Lisbon | ᵒⁿᵉˢʰᵒᵗWo Geschichten leben. Entdecke jetzt