Das Erste oder das, in dem uns mein Onkel besuchen kam.

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Das Erste oder das, in dem uns mein Onkel besuchen kam.

„Sie hat ihn blamiert, Charles! Schamlos öffnet sie den Mund und wirft mit altklugen Sätzen um sich", jammerte meine Mutter meinem Vater vor und ich verdrehte die Augen. Sie musste auch immer alles so sehr dramatisieren.

„Jedes Mal, wenn ein junger Mann sie anspricht, macht sie alles kaputt. Wieso kann sie nicht wie alle anderen Mädchen sein, die einfach still sind?", polterte sie weiter und ich konnte mir genau vorstellen, wie sie im Zimmer auf und ab lief, die eine Hand auf die Brust gelegt und mit der anderen sich Luft zufächelnd. „Julia Goodman, das ist ein stilles Mädchen und sie war schon mit siebzehn verlobt. Oder die älteste von den Bordley-Schwestern. Sie hat gewusst, in welchem Momenten es gut war zu schweigen, und sie war mit achtzehn sogar schon verheiratet!" Sie holte tief Luft. Zwar hörte ich es nicht, aber ich wusste es auch so.

Mein Vater dagegen, der wohl entweder am Kaminsims lehnte oder seine Schreibtischkante unter dem Gesäß hatte, hielt dann immer die Luft an und fragte sich genau wie ich, warum sie ständig von stillen Mädchen redete, aber niemals selbst still war.

„Aber deine missratene Tochter sitzt den ganzen Tag auf dem Dachboden in einem alten Sessel und verschlingt Bücher, anstatt zu lernen, wie man sich richtig zu verhalten hat!", keifte sie nun und ich konnte förmlich vor mir sehen, wie sich eine steile Falte zwischen den Augenbrauen meines Vaters bildete.

„Ani weiß, wie man sich richtig zu verhalten hat, Darling!", verteidigte er mich und ich lächelte.

Mein rechtes Bein wurde langsam taub und ich versuchte mich anders hinzusetzen, ohne das Ohr vom Lüftungsgitter des Kamins zu nehmen, das von der Küche durch Vaters Arbeitszimmer bis hinauf zum Dachboden reichte.

„Und warum tut sie's dann nicht?", rief meine Mutter aus und ich seufzte leise, weil ich genau wusste, was jetzt folgte. „Sie ist schon neunzehn, Charles! Neunzehn! Langsam habe ich den Eindruck, dass sie überhaupt kein richtiges Leben führen möchte. Immer nur Bücher, Bücher, Bücher. Und in ein paar Jahren wird sie eine alte Jungfer sein, die keiner mehr haben will, weil sie ihre blühenden Jahre auf einem alten, dreckigen Dachboden verplempert hat!" Meine Mutter begann zu schluchzen und mein Vater murmelte ein paar tröstende Worte.

Ich nahm den Kopf wieder hoch und ließ meinen Nacken knacken. Meine Mutter machte sich einfach nur unnötig Sorgen über Dinge, die mir völlig nebensächlich erschienen. Sie glaubte, dass heiraten und einen eigenen Haushalt zu führen das größte Glück einer jungen Frau sein müsste.

Doch meins war es eben nicht. Sollte ich doch ohne Mann enden, was machte das schon? Ich wurde vielleicht nicht reich, hätte keine eigene Kutsche und konnte mir nicht jedes halbe Jahr eine neue Garderobe zulegen, aber die öffentliche Bibliothek war kostenfrei und dort würde ich bestimmt glücklicher werden als mit einem stumpfsinnigen Mann in einem viel zu noblen Haus.

Ich klopfte mir den Staub vom Rock, zog meine Bluse zurecht und strich mir eine Haarsträhne aus der Stirn, die sich aus meiner Frisur gelöst hatte.

Fast sehnsüchtig sah ich zu meinem alten Sessel, dessen dunkelgrüner Samt an den Armlehnen etwas abgewetzt war und den meine Mutter schon vor Jahren aussortiert hatte, weil er ihr zu schäbig erschien.

Doch für mich war er ein Stück guter Erinnerungen und gehörte in mein Leben, genauso wie es die Bücher taten.

Am liebsten hätte ich mich wieder in seine ausgeleierten Sitzfedern gekuschelt, das Buch aufgeschlagen, das ich vorhin begonnen hatte, und einfach vergessen, dass dort draußen eine Welt mit Gesellschaften und heiratsvermittelnden Müttern existierte.

Animant Crumbs STAUBCHRONIK [Leseprobe]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt