Graue Wellen, unruhiges Wasser. Sie schwappten wie gefräßige, blubbernde Monster gegen die Kanalwände. Kalt und uninteressiert an dem, was über ihren Köpfen vor sich ging.
Sie hatte davon gehört, dass Wasser generell grundsätzlich farblos war und nur die blaue Farbe des Himmels spiegelte, doch dieses Kanalwasser blieb selbst bei strahlendstem Himmel dunkel und trostlos. Vielleicht lag es ja auch an den Häuserwänden, die links und rechts den Kanal säumten und das wenige Tageslicht abfingen, das bis hier herunterfiel.
Selma musste ihre Augen nicht öffnen, um dies alles vor sich sehen zu können. Auch mit geschlossenen Augen hätte sie sagen können, dass sich die Brücke knapp 15 Meter über dem Wasser befand. Dass die Wasserfarbe graublau bis tintenschwarz war und kein einziges Schiff auf dem Kanal schipperte.
Unter ihren Händen spürte sie das rostige Geländer, dessen Lack abblätterte. Es stank nach dieser Mischung aus Algen, toten Muscheln, Fernweh und Mövenkacke. Das waren die vier Bilder, die Selma sofort in den Kopf schossen, wenn sie an ihre Heimatstadt dachte. Obwohl man das Heimat nicht nennen konnte.
Als in der Ferne eine Kirchenglocke zu läuten begann, wusste Selma, dass sie spät dran war.
Eine letzte Sekunde lang sog sie begierig diese Luft ein, die für sie irgendwo auch Freiheit bedeutete. Dann löste sie ihre Hände vom Geländer und rannte los. Los nach Hause.
Das Bett roch muffig. Nach Schweiß und Zigarettenqualm.
„Selma?" Die dünne Stimme ihrer Schwester drängte sich durch die suppige Dunkelheit an Selmas Ohr. „Selm, bist du noch wach?" Selma wollte nicht reden. Aber noch weniger wollte sie, dass sich ihre Schwester alleine fühlte. „Hmmm", machte sie. Ihre Schwester im gegenüberliegenden Bett an der Wand fragte: „Was macht Papa jetzt?" „Das, was er immer macht "
Der Kleinen reichte diese Antwort natürlich nicht. „Und was macht er immer?"
„Ach, das weißt du doch....", meinte Selma ausweichend. Sie kannte die Fragen, die jetzt
kommen würden in- und auswendig und gerade war sie einfach zu müde dafür.
Ihre Schwester ließ nicht locker. „Es ist so leise...'
Diesmal hatte sie nicht mehr geflüstert.
„Ruhe!"
Die Zimmertür wurde aufgerissen und der Mann - ihr Vater - stand in der Tür.
„Ruhe oder es setzt was!", brüllte er noch einmal.
Selma konnte förmlich hören, wie ihre Schwester in ihrem Bett soeben steif wie ein Brett geworden war, obwohl kein Ton von ihr kam.
Die Kleine hatte Angst. Angst, obwohl beide Mädchen wussten, dass - wenn es dazu kam - ohnehin nur Selma etwas abbekommen würde. Und das war vermutlich das Schlimmste daran.
Als die Zimmertür wieder zu war, herrschte eine Totenstille und in diesem Moment wünschte sich Selma nicht zum ersten Mal, wirklich tot zu sein.
„Selma, kannst du mir nicht einfach sagen, was los ist?"
„Nichts ist los, das kann ich Ihnen sagen.", erwiderte Selma. Sie wusste, dass es nichts brachte, irgendjemandem irgendetwas zu erzählen. Das reichte nie aus. Sie wollten immer gleich die ganze Geschichte hören. Selma hätte mit dem Schlafmangel anfangen können. Ihrer Lehrerin erzählen, dass das der Grund dafür war, dass sie häufig im Unterricht einschlief und selten gut aufpasste. Dann hätte ihre Lehrerin nach dem Grund für den Schlafmangel gefragt und diese Frage hätte Selma nicht beantworten können, ohne sich in weitere Fragen zu verstricken.
Am Ende, wenn sie die ganze Geschichte erzählt hätte, wäre ihre Lehrerin zu überfordert, um etwas wirklich Sinnvolles zu tun. Letztlich würde es ihr Vater herausfinden und Selma müsste wieder die Schule wechseln. Das war es nicht wert.
Deshalb beließ sie es dabei. Nein, sie hatte keine Probleme. Ja, zu Hause lief alles gut. Nein, niemand tat ihr weh. Ja, ihr Vater kümmerte sich gut um sie.
Am Nachmittag nach der letzten Stunde stand Selma wieder da. Auf der Brücke. Tief unter ihr gurgelte das Kanalwasser. Jeden Tag schien es mehr so, als würden die Wellen sie erwarten, sie verschlucken wollen. Irgendwann würde sie springen, das wusste Selma. Selma würde springen, trotz des Wissens, dass sie nicht schwimmen konnte. Gerade deshalb.
Doch bis dieser Tag gekommen war, reichte Selma das Wissen, dass es einen Ausweg gab.
Einen Weg nach draußen.
Selma stand oben. Fühlte den Rost, roch die Algen und toten Muscheln. Sie hörte das Schwappen und Gluckern des Wassers.
Das Schwappen und Gluckern ihrer Freiheit.
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Die Brücke
Short StoryLest einfach selbst. Aber TW zu . . . Suizidgedanken, Gewalt gegen Kinder