Wie Musik die Welt verändert

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@AlinaWi98
Aus der Sicht eines Gehörlosen:
Was ist Musik eigentlich? Es ist eine Kunstgattung, deren Werke aus organisierten Schallereignissen bestehen. Um Musik erzeugen zu können, braucht man akustisches Material – Töne und Geräusche. Töne können in unterschiedlicher Lautstarke und Klangfarbe erscheinen und Melodien bilden. Aus der zeitlichen Folge der Töne und Geräusche verschieden langer Dauer entstehen Rhythmen. Aus dem Zusammenklang mehrerer Töne von jeweils anderer Tonhöhe erwächst Mehrstimmigkeit, aus den Beziehungen der Töne untereinander entsteht Harmonik. Das Ausgangsmaterial der klingenden Musik sind Schallereignisse, d. h. Töne  (periodische Schwingungen), Geräusche  (nicht periodische Schwingungen), im Einzelfall Rauschen (Schwingungen mit statistisch normal verteilten Frequenzänderungen) und Knall (impulsartiger, unperiodischer Energieschub ohne Toncharakter). Sie sind zugleich deren natürlich auftretende Grundlage, die ohne Zutun des Menschen entsteht, vom Menschen aber ebenso willentlich erzeugt und in ihren einzelnen Parametern verändert werden kann.

Die Frage, was Musik sei oder nicht sei, ist so alt wie das Nachdenken über Musik selbst. Trotz der zahlreichen historischen Versuche, zu einem allgemeinen und grundsätzlichen Musikbegriff zu gelangen, gab und gibt es keine allein gültige Definition. Die bisherigen Begriffsbestimmungen stellten jeweils einen Bestandteil des Phänomens Musik in den Mittelpunkt. Die Definitionsgeschichte ist von vielen Widersprüchen geprägt: Musik als rationale, zahlenbezogene Wissenschaft, Musik als gefühlsbetonte Kunst, Musik im apollinischen Verständnis, Musik als reine Theorie oder reine Praxis – oder als Einheit beider Bestandteile. Der Begriff Musik  ist nach neuzeitlichem Verständnis klingender und wahrnehmbarer Schall. Diese Bedeutung hat sich allerdings erst in einem Prozess ergeben, der über zwei Jahrtausende andauerte und eine Vielfalt von Klassifikationen hervorbrachte, die das jeweilige Weltverständnis ihrer Entstehungszeit widerspiegeln. Obwohl vordergründig Musik als reine Zeitkunst und transitorisch, das bedeutet vorübergehend erscheint gegenüber den statisch-dauerhaften Raumkünsten Malerei, Bildhauerei, Zeichnung, Grafik und Architektur, so ist sie doch von deren räumlichen und nicht-zeitlichen Vorstellungen geprägt und hat sie ebenso mit ihren Anschauungen von Zeitlichkeit und Proportion beeinflusst. Begriffe wie „Tonraum“, „Klangfarbe“ oder „Farbton“, „hohe / tiefe“ Töne und „helle / dunkle“ Klänge und ähnliche Synästhesieausdrücke, die Doppeldeutigkeit von „Komposition“ im musikalischen Denken und in dem der Bildenden Kunst gehören zum allgegenwärtigen Beschreibungsvokabular.

Die Erfahrung, dass eine akustische Wirkung wie Nachhall oder Echo sich erst im Zusammenhang mit dem Raum einstellt, gehört zum Urbesitz des Menschen. Zur musikbezogenen Wahrnehmung gehören das Erkennen und Differenzieren von Tonhöhen, Tondauern und Lautstärkegraden. Dem absoluten Gehör kommt bei den Leistungen des Langzeitgedächtnisses eine besondere Bedeutung zu. Zu diesen Fähigkeiten zählen auch das Auffassen und Behalten von Melodien, Rhythmen, Akkorden oder Klangfarben. Bei zunehmender Erfahrung im Umgang mit Musik entwickelt sich die Befähigung, Musik stilistisch einzuordnen und ästhetisch zu bewerten. Zur praktischen Musikalität gehören die produktiven Fertigkeiten, die Stimme oder ein Musikinstrument technisch zu beherrschen und mit ihnen musikalische Werke künstlerisch zu gestalten. Die Musik verändert unsere Welt.

Aber hast du dir schon mal Gedanken drum gemacht, was Musik für Gehörlose sein könnte?

Häufig bekommen Gehörlose Mitleid, "weil die armen Gehörlosen ja keine Musik und kein Vogelgezwitscher hören können." Mal im Ernst, die meisten Menschen, nehmen das vielgelobte "Vogelzwitschern" so gut wie nie bewusst wahr, das Gehirn filtert es nämlich als "unwichtige" Information heraus. Aber nehmen wir ein Beispiel. Ich frage dich „Vermisst du die ultravioletten Farben der Blumen? Oder die Ultraschallrufe der Fledermäuse?“ Du würdest mit Sicherheit erst die Schultern zucken, da du keine Ahnung hast. Denn Menschen können kein ultraviolettes Licht sehen und keinen Ultraschall hören. Ähnlich geht es Gehörlosen, die von Geburt oder frühen Kindesjahren an nicht hören können. Die Musik fehlt nicht in ihrer Welt, sie vermissen die Musik auch nicht, weil sie noch nie welche gehört haben. Es gibt aber Ausnahmen! Ich zum Beispiel, kann mir ein Leben ohne Musik nicht vorstellen, auch wenn ich Musik noch nie gehört habe. Jetzt hälst du mich für bekloppt, aber lass mich das mal  irgendwie erklären.

Es gibt Gehörlose, die es lieben, ihre Hand aufs Klavier zu legen, Diskotheken zu besuchen oder ihre Stereoanlage zu Hause voll aufzudrehen. Sie nehmen die Schwingungen mit den Fingern, den Füßen und dem Bauch wahr. Dabei können sie sich viel besser auf Feinheiten konzentrieren als Hörende, deren Gehirn voll ausgelastet ist mit den Signalen von den Ohren. Für die Musikliebhaber unter den Gehörlosen kann das ein ähnlich schönes Erlebnis sein wie das "richtige" Hören.

"Gehörlosigkeit ist einfach, wenn man nichts hören kann und mit den Händen redet - sonst ist alles genauso wie bei anderen Leuten", glauben viele Menschen. Und dann sind sie ganz verwundert, wenn jemand widerspricht. "Was ist denn noch anders?", wollen sie wissen. "Ich hatte mal einen Kollegen, der konnte nichts hören, aber sonst war der ganz normal", erzählen manche. "Also, wo ist da der große Unterschied?"

Die Frage ist berechtigt, denn auf dem ersten Blick erscheint ja alles so einfach und klar. Nur ist die Antwort nicht so leicht. Denn natürlich ist ein Gehörloser nicht wie der andere, und man kann nicht mal eben eine Studienreise nach  Gebärdenland  machen, um die Lebensweise der Bewohner kennenzulernen. Trotz mehrerer Jahre Unterricht in Gebärdensprache, Selbstversuchen mit Ohrstöpseln und weggedrehtem Ton am Fernseher, vielen privaten Kontakten zu Gehörlosen sowie Arbeit für und mit Gehörlosen kann man noch immer nicht erklären, wie es wohl ist, gehörlos zu sein. Nein, die meisten können es nicht vorstellen - viel zu tief sind  Hörende in der Welt der Geräusche verwurzelt.

Was ich jedoch zu wissen glaube, ist, dass es zwischen Gehörlosen und Hörenden durchaus einige Unterschiede im Denken und Handeln gibt Sich gegenseitig wirklich zu akzeptieren, fällt leichter, wenn man die Unterschiede kennt und annimmt, statt sie großzügig zu übersehen oder beiseite zu drängen. Um jemand anderen anzunehmen, wie er ist, muss man erstmal wissen, wie er ist.Ich kann dir hier also keine Weisheiten bieten, sondern nur aus meiner Erfahrung und meiner Sicht ein paar Dinge schildern, worin sich Gehörlose von Hörenden unterscheiden. Vielleicht wächst so ein bisschen mehr Verständnis füreinander heran oder sogar die Neugierde in Dir, sich selbst ein eigenes Bild zu machen.

Mit der Gebärdensprache blühen Gehörlose auf, fallen die vermeintlichen Barrieren in ihrem Leben. In Gebärdensprache können sie sich locker über alles unterhalten, Witze machen, die sich unmöglich in Lautsprache übertragen lassen. "Wir sind nicht behindert", erklären Gehörlose immer wieder den Hörenden. "Wir sind eine sprachliche Minderheit." Und tatsächlich erinnern die durchaus vorhandenen Probleme Gehörloser in einer hörenden Umwelt weniger den Sorgen Behindeter, als vielmehr den Schwierigkeiten eines Deutschen in einem Urlaubsland, dessen Sprache er nicht kann.

Einen wesentlichen Unterschied zu beispielsweise Rollstuhlfahrern oder Blinden gibt es, denn die Gehörlosigkeit kann man nicht sehen. Wenn man als Hörender einen Gehörlosen von hinten anspricht und er nicht reagiert, kann kein Mensch wissen, dass er nicht stur ist, sondern einfach nichts gehört hat. Oder Du fragst jemanden nach dem Weg, und er antwortet völlig überraschend mit einer Stimme, die grell laut und unverständlich ist. Ich gebe zu, dass es mir schon passiert ist, dass mich jemand nach dem Weg gefragt hat, aber ich ihn einfach nicht verstanden habe, was er von mir wollte. Er hat mich beschimpft und ist dann davon gelaufen. Ich wollte ihm irgendwie erklären, dass ich nicht hören kann. Es ist nämlich unglaublich schwierig für Gehörlose, ihre Stimme gut zu kontrollieren, ohne sich dabei selbst zu hören. Nur wenigen gelingt das so gut, dass kaum etwas zu bemerken ist, die meisten sprechen "seltsam", manche kann man gar nicht verstehen. Auf jeden Fall weiß ein Hörender vorher nicht, dass sein Gegenüber gehörlos ist und wie er sich verhalten soll.

Mag die Aussprache vielleicht undeutlich sein - "stumm" sind Gehörlose nicht und deshalb auch nicht "taubstumm". Diesen Begriff empfinde ich und auch die meisten Gehörlosen sogar als Beleidigung, und Hörende sollten ihn daher nicht gebrauchen. Er steht zwar immer wieder in Zeitungen, und viele Ärzte benutzen ihn, doch das zeigt nur, wie wenig wir Hörenden über Gehörlose wissen. Sagen Sie besser "gehörlos". Auch das Wort "taub" akzeptieren viele Gehörlose, manche bevorzugen es sogar, weil es nicht die Gehör-"losigkeit" betont.

Weil Gehörlose sich selbst als sprachliche Minderheit ansehen, ist die Gehörlosigkeit für sie auch keine Krankheit, wie viele Hörende sie einordnen würden. Diese Gehörlosen sehen ihre Gehörlosigkeit häufig auch als Behinderung an und versuchen, sie zu minimieren, sie eventuell zu verbergen, jedenfalls so "normal" wie möglich zu sein. Daran ist nichts auszusetzen. Es ist eine persönliche Einstellung, die ebenso akzeptiert werden sollte wie die Entscheidung, sich voll auf die eigene Gehörlosigkeit einzulassen.

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⏰ Letzte Aktualisierung: May 19, 2015 ⏰

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