Für einen schreckverzerrten Augenblick konnte Marian nur auf den Pfeilschaft und das daran befestigte Seil starren, welcher sich unweit von ihr in das Holz eines Deckenbalkens gebohrt und das zweite, geschlossene Fenster durchschlagen hatte. Just zu diesem Zeitpunkt fuhr der Steuereintreiber neben ihr aus dem Schlaf.
„Was zum-?", setzte er an, die Stimme dunkel und unheilvoll, aber immer noch trunken vom Wein. Der Stuhl, auf dem Roger gerade noch gesessen hatte, fiel durch den Schwung zu Boden und das Poltern dröhnte durch die Stille. Dann erfasste sein glasiger Blick den uneingeladenen Gast in der Kammer und seine Miene verhärtete sich.
Seine Hand schoss nach vorn, raue Finger schlossen sich schmerzhaft um ihr Handgelenk und drückten zu.„Habe ich dich, du diebischer Mistkerl!"
Das Zwielicht in der Kammer ließ Rogers Züge noch finsterer erscheinen und die fettigen Strähnen des ungewaschenen Haares fielen wild in seine grimmigen Züge.
In diesem Moment spannte sich das Seil an dem Balken und instinktiv fuhren beide Blicke zu dem Ursprung des surrenden Geräusches. Ein größer werdender Schatten ging dem ohrenbetäubenden Klirren voraus, als das zweite Fenster von der Wucht eines Körpers zerbarst. Scherben rieselten von einem ledernen Mantel und glitzerten eine Sekunde im Kerzenlicht, wie schimmernder Regen. Flackernd erstarb das Flämmchen der Kerzen, welches von der hereinziehenden Windböe erstickt wurde.
Finsternis senkte sich über die Kammer, während der unerwartete neue Gast sich auf dem Boden abrollte. Geschickt kam er wieder auf die Beine und Scherben rieselten klirrend auf die Dielen. Der Neuankömmling hatte seine Kapuze weit in sein Gesicht gezogen und eben jenes mit einem blutroten Tuch verhüllt. Doch auch ohne die breiten Schultern und den unnötig übertriebenen Auftritt, der alle ihre Pläne zunichtemachte, hätte Marian sofort erkannt, um wen es sich hierbei handelte. Immerhin zierte sein Abbild unzählige vergilbte Steckbriefe an den Hauswänden Nottinghams: Robin Hood.
„Diebe!", stieß Roger aus, der sich aus seiner Schreckstarre gelöst zu haben schien.
„Lass los, du Mistkerl!", zischte Marian mit rauer Stimme und zerrte an ihrem Arm. Aber selbst betrunken besaß der raffgierige Steuereintreiber noch immer mehr Kraft als sie.
„Dir setz' ich ein Ende, dreckiger Dieb!"
Marians Herz stolperte, als das fahle Mondlicht über eine von seinem Gürtel gezogene Klinge huschte. Ihre Augen weiteten sich, als die Spitze auf sie zuschoss, bereit, das Leben der unglückseligen Diebin zu beenden. Ihr Atem stockte und in dieser einen Sekunde schossen ihr tausend Gedanken durch den Kopf, ohne dass einer an Substanz gewann. Erstarrt erwartete sie den tödlichen Stoß.
Da zog ein fauchendes Zischen knapp an ihr vorüber und riss den Körper des Steuereintreibers einen Schritt nach hinten. Blinzelnd taumelte auch Marian einen Schritt rückwärts. Den nächsten Pfeil sah sie kommen. Die Federn glänzten kurz auf, als er an ihr vorbeischoss und Roger knapp über der Schulter an seinem Wams an den Pfeiler pinnte. Ein dumpfes >>Plock<< erklang und eine weitere Pfeilspitze grub sich knapp neben dessen Gesicht direkt in den Mörtel der Mauer. Seine Augen waren von Schreck weit aufgerissen, während er den dunklen Silhouetten der Eindringlinge entgegenstarrte. Schnell jedoch wandelte sich sein Schock in eine verzerrte Fratze blanken Zornes.
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Die Königin von Pfeil & Bogen
Historical Fiction[WATTYS 2023-WINNER/Fesselndste Welt] ** Marian, stehlende Adelstochter mit großem Herzen trifft auf Robin Hood, verwegener Dieb mit gewaltigem Ego. Werden sie alten Schmerz, Vorurteile und schließlich den grausamen Sheriff von Nottingham überwinden...