2.2 Am Mittagstisch

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Am nächsten Morgen war seine Mutter in aller Frühe in sein Zimmer marschiert, um dieses mit blendend hellem Sonnenlicht zu fluten, indem sie erbarmungslos die Vorhänge beiseite gerissen hatte. Stöhnend vergrub Akin den Kopf unter seinem Kissen. Die Augen fielen ihm von allein wieder zu.

»Aufstehen, Liebling! In einer halben Stunde wollen wir losfahren«, trällerte Susanne viel zu gut gelaunt. »Such dir vielleicht eine Jacke aus deinen Kartons, es sieht nach Regen aus, und lüfte bitte durch. Es riecht hier wie im Tigerstall.«

Als er hörte, wie sie die Türen seines Kleiderschrankes aufriss, schob er sein Kopfkissen ein Stück in Richtung Bettkante, um nicht einem Erstickungstod zum Opfer zu fallen. Akin stöhnte gequält. Die Müdigkeit pulsierte wie ein wildgewordener Presslufthammer in seinem Kopf, zog sich durch seine Adern bis hinunter in seine Beine, wo sie bettschwer zum Liegen kam. Er musste nicht in den Spiegel schauen, um zu wissen, dass er dunkle Augenringe bekommen hatte. Sein Gesicht fühlte sich eingefallen an. Mit der eingeschalteten Lampe auf seinem Schreibtisch hatte er nach dem nächtlichen Vorfall zumindest etwas weiterschlafen können.

»Das Frühstück hast du verpasst, aber das ist ja nichts Neues«, fuhr Susanne unbeirrt fort. Wie immer störte sie sich nicht daran, dass er nicht antwortete. »Fürchterlich. Ich hab dir doch schon so oft erklärt, dass du nachts das Fenster auflassen sollst.«

»Das hab ich doch«, kam es leise von Akin. Sein Blick wanderte am Schreibtisch vorbei, über die Lampe bis zu den geschlossenen Fenstern. Er legte seinen Kopf schief. Ich hätte wirklich schwören können, dass ich nach dem Rauchen... Ein Gähnen, irgendwo tief aus seinem Innersten, unterbrach ihn beim Denken. Ihm fielen die Augen zu, doch während sein Kopf langsam nach vorn über sackte, schreckte er bereits hoch.

»Ich hatte gestern noch gesagt, bleib nicht so lange wach. Aber der Herr musste ja wieder an der Videospielkonsole hängen, nicht wahr? Hauptsache die Playstation ist das Erste, was aus den Kartons gepackt wurde.« Seine Mutter marschierte an seinem Bett vorbei, um die Fenster weit aufzureißen.

Die kalte Vormittagsluft drang in sein Zimmer wie ein eisiger Hauch, der seine Armhaare aufstellen und ihn sich tiefer unter die Zudecke kuscheln ließ. Akin schüttelte den Kopf. Eine dumme Idee, denn sofort verstärkte sich der schmerzende Druck an seinen Schläfen. »Ich hab doch gar nicht gezockt.«

Susanne atmete geräuschvoll aus und fuhr sich in einer erschöpft aussehenden Geste über das Gesicht. Ihre langen, blonden Haare hatte sie sich aufwendig hochgesteckt, als würde sie auf eine Hochzeit gehen wollen. Er konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal ihre Fähigkeiten als gelernte Friseurin dafür genutzt hatte, sich selbst eine Frisur zu machen. Sonst trug sie ihre Haare nur offen, maximal klemmte sie sich die vordersten Strähnen mit einer Klemme zur Seite.

»Liebling, ich würde mir wirklich sehr wünschen, dass das heute mit uns funktioniert.«

»Angst, dass ich dich blamiere?«

Seine Mutter zog ihre Augenbraue warnend nach oben. »Ich meine es ernst. Die können mich sowieso schon nicht leiden.« Sie räusperte sich. »Jedenfalls wäre es lieb, wenn du dich zur Abwechslung benimmst.«

»Klar, ich verprech's. Ich bin artig wie im Bilderbuch.«

»Ziehst du dir etwas Hübsches an?«, versteckte seine Mutter ihre Aufforderung hinter einer liebevoll formulierten Frage. Sie hielt ein Hemd in die Höhe, das ihm nicht bekannt vorkam. Es war cremefarben mit weißen Pünktchen auf den Ärmeln. »In deinem Kleiderschrank gibt es auch Klamotten jenseits von schwarz und Pullover. Sieh mal, das hier habe ich bei Viktor gefunden...«

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