Es war einmal vor langer, langer Zeit. Damals lebte eine wunderschöne, junge Frau in einem kleinen Dorf. Ihr Name war Abigail. Sie war eine einsame, junge Frau von zweiundzwanzig Jahren, die in einfachen Verhältnissen lebte. Ihre Eltern waren vor sechs Jahren an einer mysteriösen Krankheit gestorben. Aber Abigail war stark und wollte sich von diesem Schicksalsschlag nicht unterkriegen lassen. Sie hatte gegen den Willen einiger Dorfbewohner darum gekämpft, in der kleinen Hütte ihrer Eltern leben zu dürfen und schließlich gewonnen. Nach all den schlimmen Dingen, die ihr in der Vergangenheit widerfahren waren, musste sie nun hart arbeiten, aber sie war fest entschlossen, den Mut nicht zu verlieren und ihren Weg zu gehen.
Abbie verließ eines Abends mit zügigen Schritten das Dorf. Sie wusste, dass ihr einige Männer hinterherblickten und gierig betrachteten, wie ihre sanft gerundeten Hüften bei jedem Schritt mitschwangen. Manchmal taten sie mehr, als sie anzustarren, aber bis jetzt hatte sie immer alleine geschlafen. Leider war unter den Männern aus ihrem Dorf niemand, den sie mochte oder der ihr Herz schneller schlagen ließ. Die meisten ihrer Bewunderer hatten allerdings auch keine ehrenwerten Motive - wie Heirat - im Sinn. Daher ignorierte Abbie diese die meiste Zeit und wagte auch nicht, zu lange in den einsamen Gassen oder Schatten zu verweilen. Abbie war weder naiv noch optimistisch genug, um zu glauben, dass sie immer in der Lage wäre, die Männer abzuschütteln. Ein- oder zweimal war es schon ein harter Kampf gewesen, sich von einem der aufdringlichen Kerle zu befreien. Das steigerte ihre Vorsicht, wenn sie außerhalb ihres Hauses unterwegs war. Schon oft hatte sie ihr feuerrotes Haar verflucht, welches in Locken bis zu ihren Hüften reichte. Ein leichter Wind wehte ihr eine Strähne ins Gesicht, die sie unwirsch hinter ihr Ohr klemmte. Sie bereute, dass sie an diesem Morgen darauf verzichtet hatte, ihr Haar zu flechten. Auch wenn es unpraktisch war, so trug sie es gern offen. Allerdings selten, denn ihre Lockenpracht schien die Rüpel nur noch mehr anzuziehen. Im Licht leuchtete es wie ein Signalfeuer und machte es schwer, sich unauffällig zu bewegen. Sie seufzte. Vor dem Tod ihrer Eltern war sie relativ sicher gewesen, denn ihr Vater war ein respektiertes Mitglied der Dorfge-meinschaft und ein Mann, mit dem man sich nicht anlegen wollte. Aber die Zeit verging und aus dem süßen, kleinen Mädchen, auf das ihre Eltern immer so stolz gewesen waren, wurde eine erwachsene Frau. Eine Frau, der viele Blicke folgten, wenn sie im Dorf unterwegs war, um Einkäufe zu erledigen oder Kranke zu besuchen. Abbie war Heilerin, das war auch der Grund, warum sie jetzt das Dorf verließ und nach Hause ging. Ihre Fähigkeit, andere zu heilen, war für sie gleichzeitig Segen und Fluch. Sie sorgte dafür, dass sie etwas zu Essen kaufen konnte, aber gleichzeitig animierte es die Leute - zusammen mit ihrem roten Haar - sie hinter ihrem Rücken als Hexe zu beschimpfen. Auch jetzt tuschelten ein paar Dorfbewohner hinter hervorgehaltener Hand, während sie an ihnen vorbei ging. Sie wussten genau, dass Abbie zu gutherzig war, um jemanden zu verletzen oder zu verfluchen. Aber die Männer, die sie mit allen Mitteln haben wollten, waren gefährlich. Eine Frau ohne Ehemann oder Familie, die sie schützen konnte, galt als leichte Beute. Es war viel zu einfach, unheimliche Gerüchte zu streuen, die in den Köpfen der Abergläubischen schnell Wurzeln schlugen und sich nur schwer wieder zerstreuen ließen. Allerdings hatte sie Glück, dass der Priester der kleinen Dorfkirche ihre Heilkünste als Gabe Gottes betrachtete und somit die Leute immer wieder beruhigte. Abbie war Vater Christoph dafür sehr dankbar, denn sie wusste, dass viele Kirchenväter anderer Meinung waren.
Die Männer und deren niedere Absichten waren nicht die einzige Gefahr, die sie im Schatten der Nacht verfolgten. Das ganze Gebiet wurde seit einigen Monaten von einer furchterregenden Finsternis der besonderen Art beherrscht. In dieser Zeit waren schon viele Menschen nachts von unheimlichen Wesen getötet worden und daher verließen die Dorfbewohner ihre Häuser nach Sonnenuntergang nur noch selten. Nicht, dass es die Leute ausnahmslos schützen würde, aber das machte es den Kreaturen der Nacht etwas schwerer, an sie heranzukommen. Anfangs hatten sie gedacht, dass es Wölfe wären, die die Menschen so zugerichtet hatten. Bald darauf konnte jedoch eines der Opfer berichten, dass der Täter ein Dämon in menschlicher Gestalt mit leuchtend roten Augen war, bevor es an seinen schweren Verletzungen verstarb. Abbie hatte Glück, dass sie bis jetzt keinem dieser Dämonen begegnet war, aber sie hatte gesehen, was sie anrichten konnten. Als Heilerin wurde sie gerufen, wenn die Leute im Dorf krank oder verletzt waren. So auch in diesen Fällen. Der Gedanke an die zerfetzten Hälse und die anderen tiefen Wunden, die wahrscheinlich von Klauen oder Fängen stammten, ließen sie erschaudern.

DU LIEST GERADE
Im Schatten der Nacht - Leseprobe
VampirgeschichtenCover by Yvonne Less http://art4artists.com.au/ Ein etwas anderes Märchen für Erwachsene mit Biss. In einem abgeschiedenen Dorf im Großbritannien des 17. Jahrhunderts. Es ist eine finstere Zeit und im Schatten der Nacht lauern viele Gefahren ... Die...