Am nächsten Morgen will ich gar nicht aus meinem Bett.
Nieselregen trommelt leise auf das Dach des Wintergartens vor meinem Fenster und ein unanblässiger Wind heult um das Haus.
Irgendwann kann ich doch nicht mehr einschlafen und stehe widerwillig auf. Ich streife mir ein weites, graues Shirt über, das eigentlich meinem Bruder gehört und schlüpfe in schwarze Leggings, bevor ich mir meine Brille auf die Nase setze und meine Haare, die unbedingt wieder gewaschen werden müssen, zu einem Pferdeschwanz zusammenbinde.
Als ich nach unten komme, sitzt Roxy mit einer Tasse Kaffee vor sich an dem kleinen, eckigen Tisch im Wintergarten und liest das Buch, das ich da gestern liegen habe lassen.
„Morgen“, ruft sie fröhlich über die Seiten hinweg, während ich missmutig zur Kaffeemaschine schlurfe.
„Wo sind meine Eltern?“, frage ich, öffne den Kühlschrank und starre hinein.
„Vor einer halben Stunde los zum Einkaufen. Dein Dad hat gesagt, dass sie wahrscheinlich erst spät nachmittags zurückkommen“.
„Mhm“, mache ich, knalle die Tür zu und öffne sie dann gleich wieder, um erneut hineinzustarren.
„Was willst du hier?“
„Ich genieße deine Gesellschaft, du Sonnenschein“
Ich lehne mich etwas zurück, um ihr einen müden Blick zuzuwerfen, aber ich sage nichts dazu. Roxy und ich sind beste Freundinnen, seit dem ich denken kann. Ihre Eltern sind selten zuhause und wenn, dann streiten sie oft. Roxy ist dann schon immer zu mir abgehauen, sie hat einen Schlüssel und meine Eltern reden von ihr immer mehr oder weniger scherzhaft als Pflegekind.
Ich greife nach zwei Scheiben Toast, schließe den Kühlschrank und schmiere dann Erdnussbutter darauf. Zusammen mit meiner Tasse Kaffe mit zwei Espressoshots setze ich mich zu ihr an den Tisch. Heute ohne Pferdeschwanz, dafür mit französisch geflochtenem Zopf, der sie irgendwie bedrohlich aussehen lässt.
„Eigentlich hätte ich Lust auf eine deiner Folterstunden, die du Work-out nennst“
Ich gähne sie demonstrativ an, nehme einen Schluck Kaffee, ziehe meine Beine an die Brust, nicke dann aber.
„Ich hab schon lange nichts mehr gemacht. Ist Bauch für dich okay?“
Roxy verdreht die Augen, beugt sich vor und zupft sich etwas von meinem Erdnussbuttersandwich ab.
„Was heißt lange? Zwei Tage?“
Ich starre sie böse über meine Tasse hinweg an, obwohl sie Recht hat.
„Ich hab Lust, mich mal wieder richtig zu besaufen“, wechsle ich das Thema. Roxy klatscht in die Hände, als hätte sie genau auf das Stichwort gewartet.
„Du kennst doch Anna aus unserem Italienischkurs, oder? Neben der ich sitze, weil ein gewisser jemand den Platz neben dir geklaut hat“
Ich nicke, zupfe den Rand des Toastes ab und stecke ihn mir in den Mund. „Die mit den Karamellhaaren“
„Du bist ja so poetisch“, frotzelt Roxy „Auf jeden Fall schmeißt sie eine Halloween Party im Wolf“
Ich pruste beinahe in meinen  Kaffee.
„Echt jetzt? Da dürfen wir noch hin? Nach dem was letztes mal passiert ist?“
Roxy lehnt sich zurück und trinkt ihren Kaffee weiter.
„Ja“
Schweigend beiße ich in mein Sandwich.
„Aber was ziehen wir an?“, frage ich dann.
Roxy grinst verschmitzt und zuckt mit den Schultern. „Ich hab schon was“
„Bloody Mary?“, rate ich. „Nein“, schießt sie mir beleidigt entgegen.
„Das wäre so unkreativ“
Ich starre sie an, während ich schweigend meinen Toast aufesse und meinen Kaffee trinke.
„Hör auf mich so anzustarren! Ich sag nichts!“
Ich hebe eine Augenbraue und trinke meinen Kaffee aus.
„Wir machen draußen. Hol die Matten und die Box von unten. Ich ziehe mich um“
Im Laufen stelle ich mein Geschirr in die Spüle, dann tausche ich in meinem Zimmer das Shirt gegen einen grünen Sport-BH und meine Brille gegen die Kontaktlinsen, die ich jeden Tag trage.
Als ich wieder die Treppe heruntertrample, hat Roxy schon die beiden blauen Sportmatten auf die Terasse gelegt, sitzt im Schneidersitz auf ihrer und liest stirnrunzelnd etwas auf ihrem Handy.
Ich knie mich neben die Musikbox um mein Handy mit ihr zu verbinden.
„Wir machen vierzig Sätze. Drei Mal eine Minute Übung, fünfzehn Sekunden Pause. Wir machen Cardioeinheiten rein und starten mit Upper Cuts“
Roxy seufzt „Wieso tue ich mir das nur immer wieder an“
Die Playlist started und wir beschallen die Nachbarschaft mit Rockmusik.
Während ich im Takt des Beats in die kühle Septemberluft boxe, schaue ich zu meiner Freundin, die ebenfalls nur in Leggings und Sport-BH trainiert. Ihr Körper ist das, was man wohl als perfekt bezeichnen kann. Schlank, biegsam und voller schlanker Muskeln, die deutlich bei jedem Schlag hervortreten.
Das Piepen des Timers reißt mich aus meinen Gedanken.
Pause. Die Pausen am Anfang kommen einem immer viel zu lange vor, während sie am Ende der Trainingseinheit wie ein Wimpernschlag  vorübergehen.
Vierzig Minuten später liege ich mit dem Rücken auf meiner Matte und starre durch das Glasdach der Terasse in den Himmel. Es hat aufgehört zu regnen.
Ich greife nach meinem Handy, unterbreche Murder Melody und ersetze es durch ein langsames, sanfteres Lied.
Mit meinem Fuß stupse ich Roxy an, die auf ihrer Matte liegt als wäre sie tot.
„Roxy dehnen!“, ich stupse energischer „Sonst verkürzen die Muskeln!“
Sie öffnet das linke Auge und stöhnt. „Los jetzt“
Ich schließe meine Beine und greife mit den Fingern nach meinen Zehen, sodass es in meinen Kniekehlen zu ziehen beginnt.
Ächzend richtet Roxy sich auf und tut das Gleiche.
„Heute Abend spielt Luka Gitarre“, ich ziehe meine Beine an, lege die Innenseiten meiner Füße zusammen und drücke die Knie nach unten.
„Ach“, macht sie „Vielleicht komme ich ja vorbei und schaue unserem kleinen Archie Andrews zu“
„Apropos vorbeikommen“, ich löse die Stellung auf und gehe halb in den Spagat.
„Wir haben nächsten Samstag eine Hochzeit. Hilfst du mit? Mum und Tante Mary sind in der Küche, wir drei dann Bar oder draußen“
Roxy tut so, als müsse sie in ihrem Terminkalender nachsehen.
„Ja klar helfe ich. Aber nur, wenn ich ein Stück Torte bekomme“
Ich wechsle die Seite.
„Klar doch und meine Mum macht übrigens die Zitronencreme als Nachtisch“
Roxy blickt von ihrer Matte auf, wie ein Habicht, der gerade eine Maus gehört hat. „Die mit Buttermilch?“
Ich nicke. „Ja ich bin so was von dabei“.
Wir gehen in die Kobra als letzte Übung.
„I found peace in your violence“, singt Roxy leise mit.
Meine Wirbelsäule knackt, als ich sie biege.
„Evie das hört sich echt ekelhaft an“
Ich kichere leise und lasse auch noch meine Halswirbel knacken, bevor ich mich aufrichte und die Matte zusammenrolle.
„Meine Mum hat uns den Auftrag gegeben, zum Kürbisfeld zu fahren, einen zu kaufen und Pumpkin Pie für heute Abend und morgen Nachmittag zu backen“
„Mit deinem Roller?“, fragt Roxy entsetzt. Ich schlage mit der zusammengerollten Matte nach ihr.
„Ich kann voll gut fahren!“
„Himmel steh mir bei“, murmelt sie.
Bevor wir aber fahren, springe ich noch schnell unter die Dusche, um den Schweiß und meine fettigen Haare loszuwerden.
Die nassen Haare stecke ich unter meine graue Beanie, weil ich keine Lust zu föhnen habe. Ich werfe Roxy noch einen zusätzlichen Pulli zu, weil sie nur ein dünnes Oberteil und Lederjacke dabei hat und der Fahrtwind sehr kalt werden kann.
Meine geliebte Honda steht in der Garage, sie ist schwarz und blau lackiert und hat zahlreiche kleine Kratzer, die allerdings nicht von mir, sondern von meinem Bruder stammen, der sie vor mir hatte.
Ich habe sie nur geerbt.
Ich bocke den Roller in der Einfahrt auf, trete schwungvoll den Motor an und setze dann meinen Helm auf.
Roxy flüstert ein letztes Gebet, dann steigt sie hinter mich auf und zusammen brausen wir aus der Einfahrt in Richtung der Stadtgrenze. Luka kehrt mit Kopfhörern in den Ohren die Straße und winkt uns zu, als wir vorbeifahren.
Ich winke zurück, Roxy klammert sich an meine Taille.
„Wir fahren nicht einmal dreißig!“, schimpfe ich über den Fahrtwind hinweg.
„Aber die fühlen sich sehr schnell an“, brüllt sie zurück und quietscht erschrocken auf, als ich mich in die Kurve lege.
Vielleicht auch ein bisschen mehr als nötig, nur um sie zu ärgern.
Als wir aus der Zone raus sind beschleunige ich auf fünfzig, bis wir das Ortsschild passieren und ich die siebenundfünzig kmh voll ausfahre, obwohl der Roller eigentlich nur fünfzig fahren können sollte.
Die Fahrt dauert etwa fünf Minuten, bis wir langsam in die Einfahrt des Bauernhofes fahren, von dem die Genießerei immer ihr Obst und Gemüse bezieht.
Ich stelle die Honda ab und Roxy rutscht schon von ihrem Sitz, bevor ich überhaupt zum Stehen komme.
„Solltest du als zukünftige Geheimagentin nicht etwas weniger furchtlos vor einem Fünfziger Roller sein?“, frage ich, nehme den Helm ab und setze meine Mütze wieder auf.
„Ich habe keine Angst vor dem Roller, sondern vor dir“, faucht sie zurück „Seit wir im Graben gelandet sind!“
„Das ist vier Monate her! Und das war meine erste Fahrt mit jemandem hinten drauf!“, verteidige ich mich.
„Eva!“, ich drehe mich um und sehe Christa, die Tochter des Bauern auf mich zulaufen. Sie ist vierundzwanzig und hat früher auf mich aufgepasst, wenn ich allein zuhause war.
„Guten Morgen!“, rufe ich ihr zu, ungeachtet der Tatsache, dass es mittlerweile schon Mittags ist.
„Wir brauchen zwei Kürbisse für Kuchen“, sage ich dann, als wir näher beieinander stehen. Sie bedeutet uns zu folgen und gemeinsam gehen wir um das Haus herum zu dem Acker, auf dem wie orangefarbene Bälle die Kürbisse herumliegen.
„Wie war die erste Woche in der Elften?“, fragt Christa mit ihrer warmen Stimme und mustert mich kurz. „Ich kann es gar nicht fassen, dass du schon so groß geworden bist“
„Naja alt“, berichtigt Roxy sie mit einem Grinsen.
Christa lacht „Stimmt. Du bist immer noch ein Zwerg“
„Eins sechzig ist nicht soo klein“, beschwere ich mich. Christa legt ihren Arm um meine Schulter und drückt mich kurz.
„Wir ziehen dich ja nur auf“
Sie deutet auf eine Reihe von kleinen, gedrungenen Kürbissen mit satter Farbe. „Die Muskatkürbisse sind perfekt für den Pie deiner Mutter“
„Gut, dann nehmen wir die“
Mit einer kleinen Säge trennen wir den Stil durch und legen die beiden Kürbisse auf die kleine Waage am Rand des Feldes.
„Fünf fünfzig“, sagt Christa mit Blick auf die Kiloanzeige.
Ich bezahle, bedanke mich und wir gehen zurück zur Honda, auf der es sich eine grau getigerte Katze gemütlich gemacht hat.
Doch als wir näher kommen springt sie davon.
„Ich hasse es, dass ich Katzen mag, aber sie mich nicht“, beschwere ich mich und blicke der rennenden Katze wehmütig nach.
„Hunde sind eh besser“, behauptet Roxy und quetscht die beiden Kürbisse in den kleinen Kofferraum des Rollers, bevor sie sich bekreuzigt und aufspringt.
Ich verdrehe die Augen, schwinge mich vor sie und wir fahren wieder zurück.
Zuhause koche ich zuerst Tee auf, dann machen wir uns daran, den Kuchen zu backen.
Als Roxy freudig den gekochten Kürbis zerstampft, klopft es an der Wintergartentür.
Mit den Händen voller Mürbeteig sehe ich nach, wer es ist.
Vor der Glastür steht ein breit grinsendes, kleines Mädchen mit zwei braunen Zöpfen mit gelben Gummistiefeln und einer Schüssel in ihren Händen, die größer war, als ihr Oberkörper.
Verdutzt öffne ich die Tür und lasse sie herein.
„Hier!“, sie drückt mir die Schüssel in die klebrigen Teighände, zieht ihre Stiefel aus, setzt sich auf das kleine blaue Sofa und blickt sich mit großen, herbstfarbenen Augen um.
„Sophie?“, frage ich die Kleine, die mir ein Zahnlückenlächeln schenkt und nickt. „Und du bist Evie“
Roxy kommt zu uns, um zu schauen, wer gekommen ist. Beim Anblick der Fünfjährigen auf unserem Sofa erstarrt sie.
„Da“, sie deutet mit einem zittrigen Finger auf sie „Da ist ein Kind“
„Sophie!“, Luka taucht im Türrahmen auf und schaut mich entschuldigend an. „Tut mir leid. Sie ist flinker, als sie aussieht“
„Hallo Hicks“, begrüßt Roxy ihn.
Luka sieht sie verwirrt an, ich werfe ihr einen finsteren Blick zu.
„Wir haben Kekse gebacken und Sophie wollte euch welche vorbeibringen“
Er deutet auf die Schüssel in meinen Händen.
„Danke“, ich stelle die Kekse schnell in die Küche und wasche mir eher schlecht als recht den Rest des Teiges von meinen Fingern.
„Wir backen gerade Kürbiskuchen für heute Abend und morgen Nachmittag“
Luka ist mir gefolgt und lehnt an der Kühlschranktür.
„Warum nennt die heimliche Auftragsmörderin mich eigentlich immer Hicks?“
Ich hole Luft, um mir eine Ausrede einfallen zu lassen, als Roxy in der Küche auftaucht, neben ihr Sophie, von der sie einen Sicherheitsabstand einhält.
„Weil du aussiehst wie er. Aber wie im zweiten Teil, keine Sorge“
Sophie zupft an Luka’s Hoodieärmel.
„Naja, wir müssen wieder weiter“
„Wir gehen Pilze sammeln“, ergänzt die Kleine fröhlich.
„Wir versuchen es zumindest.“ Die beiden gehen wieder zur Tür.
„Bis heute Abend“
Ich schaue den beiden nach, wie sie Hand in Hand wieder in ihr Haus gehen.
Roxy legt ihr Kinn von hinten auf meine Schulter.
„Dich hats ja erwischt“
Ich gebe ihr einen Klaps auf den Kopf. „Gar nicht!“
Wir machen uns daran, die Kuchen fertig zu bekommen.
„Außerdem hängt er immer mit dieser Anna ab“, sage ich schließlich.
Roxy deutet mit dem Schneebesen auf mich. „Ja, aber“, sie macht eine Kunstpause und verrührt Eiweiß mit dem zerstampften Kürbis. „Anna ist Lesbe“
Ich verschlucke mich beinahe an meinem Tee. „Echt jetzt?“, frage ich und stelle die Tasse ab.
Roxy nickt „Und sie hat eine Freundin“
Der leicht gequälte Unterton in ihrer Stimme lässt mich aufhorchen. „Wen von uns beiden hat es hier erwischt?“
Der rosafarbene Lappen trifft mich schneller im Gesicht, als ich ihn überhaupt sehen kann. „Halt die Klappe“

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⏰ Letzte Aktualisierung: Mar 21, 2023 ⏰

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